Theresia Enzensberger
Schlafen
Schlafen ist ein menschliches Grundbedürfnis, über das man sich normalerweise wenig Gedanken macht – es sei denn, ein Albtraum wirkt lange nach. Was aber geschieht, wenn das Schlafen schlecht bis gar nicht funktioniert, weder mit Schäfchenzählen oder Zahlen rückwärts denken oder Atemübungen oder was es sonst noch an Ratschlägen gibt.
Leere im Kopf
Theresia Enzensberger hat genügend Erfahrungen – sie reichen von Kamille und Bachblüten über Alkohol(abstinenz) und Kaffee als Schlafräuber und den angeblich besten Schlaf vor Mitternacht bis zu Melatonin, Tageslichtlampen, abgedunkelten Räumen, Bildschirmverzicht und meditativen Videos oder Youtube-Vorträgen. Sie ist Expertin für Schlaflosigkeit, schlimmer noch:
„Manche Menschen berichten von rotierenden Gedanken, die sie nicht schlafen lassen, vom Kopfkino. In meinem Kopf herrscht Leere. Ich liege still, und in mir ist etwas ganz fürchterlich angeknipst. Jermand weigert sich, das Licht auszumachen ... Ich bin eine Schlaflosigkeitsveteranin, mir macht niemand was vor. In dem Moment, in dem in mir dieses Ding angeknipst wird, weiß ich, ich habe verloren."
„Für die Schlaflosen, die Schlummernden, die Schattenfamilien" geht sie auf Entdeckungsreise, politisch, menschlich, wissenschaftlich und medizinisch und folgt dabei den Zyklen, die der Schlaf vorgibt: Einschlafen, leichter Schlaf, Tiefschlaf und Traumschlaf.
Gegen die Norm
Schlaf ist gesellschaftlich normiert, „wer viel schläft, gilt als faul und nichtsnutzig" heißt es. Der Schlaf ist schließlich vor allem dazu da, sich zu regenerieren, seine Arbeitskraft wiederherzustellen.
"Wer zu lang oder am Nachmittag schläft, gilt als faul und dekadent; auszuschlafen ist ein unerhörter Luxus, den man sich erarbeiten muss und Frühaufsteher sind dementsprechend vorbildlich und produktiv."
Enzensberger skizziert die Auswüchse kapitalistischer Schlafoptimierung ebenso wie die wachsende Schlafindustrie, deren Vielfalt an Produkten für einen angeblich ungestörten Schlaf kaum noch überschaubar ist. An ungünstigen Bedingungen, die für Schlafprobleme verantwortlich sind, ändern sie natürlich nichts: Das sind u.a. Diskriminierung, Armut, Stress in Beruf und Familie, Klimawandel.
„Jede*r zehnte Arbeitnehmer*in leidet unter Insomnie, das ist ein Anstieg von 60 Prozent seit 2010. Nur eine Minderheit meldet sich krank. Der Gebrauch von Schlaftabletten hat sich seit 2010 verdoppelt."
Ohne Bewusstsein
Enzensberger bündelt politische und wissenschaftliche Erkenntnisse über den Schlaf und seine Phasen, klärt dabei über die Folgen eines mehr oder weniger lange währenden Schlafmangels auf und verknüpft die Vielfalt der theoretischen Erkenntnisse mit privaten Erfahrungen und anregenden Streifzügen durch Kunst und Literatur. Denn Schlaf, Traum und Erwachen waren schon immer Gegenstand lebhafter künstlerischer, literarischer oder philosophischer Erörterungen. Nichts entzieht sich schließlich weniger dem bewussten Einfluß als der Schlaf, der zwangsläufig zu Kontrollverlust und Schwäche führt. „Schlaf ist eine Leerstelle im Bewusstsein, der Traum füllt diese Lücke." Glück hat, wer sich dran erinnert. Weshalb uns Theresia Enzensberger nach vielen klugen und anregenden Gedanken in die Welt der Träume entlässt – mit einer Geschichte, die es mühelos mit einem Albtraum aufnimmt.
(Christiane Schwalbe)
Theresia Enzensberger *1986 in München, Studium Film und Filmwissenschaft in New York, freie Journalistin, lebt in Berlin.
Theresia Enzensberger "Schlafen"
Hanser Berlin 2024, Reihe Leben, 112 Seiten, 20 Euro
eBook 15,99 Euro, Hörbuch 11,95 Euro