Anne Tyler
Drei Tage im Juni
„Dieser Job steht und fällt mit der Sozialkompetenz, das weißt du genau! Und dass soziale Interaktion noch nie deine Stärke war, bestreitest du selbst wohl als Letzte.“ Als Gail Baines das Zimmer ihrer Chefin, der Direktorin einer privaten Mädchenschule an diesem Freitag betritt, rechnet sie mit einer Plauderei. Als sie herausstürmt, lässt sie ihren gut dotierten Job als Stellvertreterin hinter sich, denn eine Degradierung wegen ‚sozialer Inkompetenz‘ kommt nicht infrage.
Blick zurück
Das Maß ihrer Herausforderungen ist an diesem Tag vor der Heirat ihrer Tochter allerdings keineswegs voll: Ihr geschiedener Ehemann Max steht mit Koffer und Katze vor ihrer Tür, denn wegen der Allergie des Bräutigams kann er sich nicht bei der gemeinsamen Tochter einquartieren. Gail muss allerhand bewältigen, an diesen drei Tagen im Juni, und Anne Tyler verknüpft eine Unzahl von Lebensfäden zu einem dichten, fein gesponnenen und mitunter überraschenden Bild einer Frau von Anfang 60, die die Chance bekommt, den Blickwinkel auf das eigene Leben noch einmal zu verschieben. Selbstironie und Scharfsinn stehen ihr dabei in hohem Maße zur Verfügung, und was sie an sozialem Kitt in ihren Beziehungen vernachlässigt und bewusst verweigert, ist ihr durchaus bewusst, etwa wenn sie sich an die Anfänge ihrer eigenen Ehe erinnert, etwa als Max sie seinen Eltern vorstellte:
„…weiß der Himmel, wie heftig er zuvor Werbung für mich gemacht hatte. Und ich war natürlich so sehr darauf bedacht, einen guten Eindruck zu hinterlassen, dass ich mich wie eine Schildkröte in meinen Panzer zurückzog.“
Fragen und Zweifel
Wir lernen Gail, die ihr Erleben während der drei Tage vor, während und nach der Hochzeit akribisch schildert, als scheue und zugleich erbarmungslos ehrliche Frau kennen, die sich nichts vormachen möchte, eine scharfe Beobachterin ist und sich zugleich endlos in Befürchtungen verstricken kann. Hat sie die Kraft, einen neuen Anfang zu wagen? Wird ihre Tochter glücklich werden, obwohl der Bräutigam Raum für Zweifel ließ? Soll sie die heimatlose Katze, die Max mitbrachte, behalten? Elegant versorgt die Autorin sie mit großen und kleinen Fragen und Zweifeln, die in dieser kurzen Zeit die Erinnerungen eines ganzen Lebens ins Schwingen bringen. Und auch lieb und bequem gewordene Gewissheiten berühren, zum Beispiel über den lässigen, optimistischen Ex-Mann Max:
„Wir verstehen uns blendend, und dann sagte er etwas, und mir wurde wieder bewusst, dass er vollkommen anders war, das genaue Gegenteil von mir.“
Jung und ahnungslos
Was sie aneinander anzog, lässt Anne Tyler mit gewohnt leichter Hand aufscheinen, und Gail Baines muss sich schließlich dem, was sie trennte, in anderer Weise stellen als es ihr lieb und gewohnt ist. In all ihren Romanen liebt die Schriftstellerin ihre sonderbaren Mittelklasse-Menschen, mit ihrer Traurigkeit, ihren mitunter festgefahrenen Bahnen, die dann wieder überraschende Wendungen nehmen können, unangestrengt und manchmal schmerzlich.
„Was sollte ich mit dem Rest meines Lebens machen? Ich bin zu jung für diese Situation, dachte ich. Nicht zu alt, wie man hätte meinen können, sondern zu jung, zu unbeholfen, zu ahnungslos.“
Gail ist wie viele von uns, voller Sehnsucht nach Nähe und zugleich nur schwer in der Lage, in ihren Beziehungen zu Ex-Mann und Tochter das richtige Maß an Liebe zu finden und zuzulassen. Anne Tyler betrachtet sie in ihrem kurzen, reichen Roman wie eine gute Freundin, der der gebührende Raum, sich zu entwickeln gehört, mit allen Unwägbarkeiten und Chancen, aber immer mit gnädigem Humor.
(Lore Kleinert)
Anne Tyler, *1941 in Minneapolis, Minnesota, Autorin zahlreicher Romane, Trägerin des Pulitzerpreises, lebt in Baltimore, Maryland
Anne Tyler „Drei Tage im Juni“
aus dem amerikanischen Englisch von Michaela Grabinger
Roman, Kein & Aber 2024, 205 Seiten, 23 Euro
eBook 17,99 Euro