Elizabeth Graver
„Kantika”
„Wer nicht lacht, gedeiht nicht”, heißt es im Hause Levy, und auch gesungen wird gern, vor allem Rebecca liebt es. gern. Nach einer arrangierten und gänzlich missglückten Ehe hat Rebeccas Vater, ein sephardischer Unternehmer, die „richtige” Frau gefunden, eine nämlich, die Kinder bekommen kann, ihre Mutter.
Schwerer Weg
Die Familie lebt in Istanbul, in einem großen Haus hoch oben auf dem Berg pflegt sie ein lebhaftes gesellschaftliches Leben, genießt Wohlstand und Anerkennung. Jüdisch, griechisch, türkisch, muslimisch – das spielt hier keine Rolle. Rebecca und ihre Schwester gehen mit Mädchen anderen Glaubens auf die katholische Schule, gegründet von einem bekehrten deutschen Juden. Man spricht französisch.
„Zweimal die Woche, wenn die christlichen Schülerinnen den Katechismus lernen, bekommen die jüdischen Mädchen getrennt Religionsunterricht ... Ihr Lehrer ist Monsieur Eskenazi, der ihnen von der Jagd auf Juden erzählt und der Vertreibung der Juden und dem Mut der Juden, während eine alte Nonne in der Ecke döst, damit sie nicht mit einem Mann allein sind.”
Aber so tolerant wird es nicht bleiben, auch der Reichtum ist nicht von Dauer und Rebecca hat einen schweren Weg vor sich, der sie von der Türkei bis nach Amerika führt.
Tiefer Fall
Es beginnt in Istanbul: „Vacances de Guerre” steht am 14. November 1914 auf einem großen Schild vor der Schule, daneben „eine echte Wache ... mit steifen Knien und durchgestreckten Schultern. Die Gesichter der Erwachsenen sind aschfahl." Rebecca nimmt es nicht ernst - „Wie kann Krieg Ferien bedeuten.” Krieg bedeutet auch, dass ihre Brüder zum Militär müssen, was die Eltern unbedingt verhindern wollen. Der Vater hat bereits seine Textilfabrik verloren, hier werden jetzt Uniformen geschneidert. Wohin also gehen? Nach Amerika, wie Corinne, die Schwester, wie Rebeccas beste Freundin Lika? Oder zurück nach Spanien, wo die Juden einst ausgewiesen wurden? In Barcelona sucht die kleine jüdische Gemeinde jemanden, der sich um die Synagoge kümmert – aber nicht als Chasam, Vorbeter, sondern als Schammes, Hausmeister. Eine tiefer Fall des ohnehin schon gedemütigten Familienoberhaupts. Rebecca wehrt sich:
„Bis jetzt war sie nie in Spanien gewesen, aber sie ist von hier, hat man ihr immer erzählt, obwohl man ihr auch unaufhörlich eingetrichtert hat, dass ihr Volk keine Heimat hat, verdammt zu endlosem Wandern.”
Das ist auch Rebeccas Schicksal, sie wird immer auf der Suche sein nach ihrer Identität im Exil. Ihre erste Ehe geht schief, der Mann, „ein großes Kind", stirbt plötzlich, sie baut sich eine Existenz als Schneiderin auf – Pariser Schick, schließlich spricht sie französisch – und muss ihre zwei Söhne allein großziehen. Schließlich nimmt sie das Angebot an, den Ehemann ihrer verstorbenen Freundin zu heiraten – auf Kuba. Ihre Migration endet in Amerika, wo sie weitere Kinder bekommt und die behinderte Tochter ihres Mannes unter ihre energische Obhut nimmt, um sie in ein halbwegs normales Leben zu führen.
Lust am Fabulieren
Elizabeth Graver zeichnet in diesem schillernden Familienepos die Geschichte ihrer Großmutter nach, die offenbar mit großer Widerstandskraft die Familie zusammengehalten hat – was nicht immer einfach war, denn die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sind geprägt von Kriegen, von Flucht und Vertreibung. Eingebettet in historische Ereignisse, erzählt die Autorin von einer starken, emanzipierten Frau, die aus Unglück stets herausgefunden und ein mühevolles, aber auch aufregendes Leben mit allen nur denkbaren Höhen und Tiefen geführt hat, immer überschattet von der Geschichte der jüdischen Diaspora. Die Autorin erzählt kraftvoll und spannend, mit großer Lust am Fabulieren – lebhaft, anschaulich und atmosphärisch. Sie hat das abenteuerliche Leben ihrer Großmutter gründlich recherchiert und
„mit der Grenze zwischen Fakt und Fiktion gespielt und mich auf die Erfahrungen realer Personen gestützt ... historische Ereignisse, Familiengeschichten und Fotografien eingeflochten, aber auch Fakten geändert und bei jeder Gelegenheit frei erfunden.”
(Christiane Schwalbe)
Elizabeth Graver, *1964 in Los Angeles, Autorin mehrerer prämierter Romane und Kurzgeschichten, lehrt Englisch und Creative Writing am Boston College.
Elizabeth Graver „Kantika”
Übersetzt von Juliane Zaubitzer
Roman, mareverlag 2024, 368 Seiten, 25 Euro
eBook 15,99 Euro