Elizabeth Strout
Am Meer
„Ich hatte es so wenig kommen sehen wie die meisten. Aber William ist Naturwissenschaftler, und er sah es kommen ..." Er sah das Virus kommen, die Pandemie, die Opfer, die Wucht, mit der es die ganze Welt überfiel, die Hilflosigkeit, mit der anfangs darauf reagiert wurde.
Veränderungen
Lucy Barton ist Schriftstellerin und läßt sich von ihrem Exmann überreden, New York zu verlassen und mit ihm nach Maine zu ziehen, in ein kleines, einsam gelegenes Haus am Meer. Die Scheidung der beiden liegt zwanzig Jahre zurück, sie sind gute Freunde geblieben. Wie recht er hatte, erweist sich schnell. Im Fernsehen verfolgen sie, wie rasant sich das Virus ausbreitet. Sie sind kaum angekommen in der Kleinstadt Crosby, als Lucy vom Tod einer befreundeten Schriftstellerin erfährt. Es wird nicht das letzte Corona-Opfer in Familie und Bekanntenkreis sein.
„Ich wusste nicht, dass ich meine Wohnung nie wiedersehen würde. ... Ich wusste nicht, dass die Beziehung zu meinen Töchtern sich auf eine Weise verändern würde, die ich nie für möglich gehalten hätte. Ich wusste nicht, dass mein Leben von Grund auf anders werden würde."
In Crosby werden sie als „Drecks New Yorker" beschimpft, weil die Stadt längst als verseucht gilt. Sie wechseln die Nummernschilder, aber das hilft nur bedingt. Leben im Ausnahmezustand: Quarantäne, Lockdown, fern von den Kindern und ihren Lebenskrisen, Streit mit den Schwiegereltern der Tochter, die meinen, die Corona-Regeln gelten für alle anderen, nur nicht für sie.
Verzweiflung
Lucy quälen Ängste und Sorgen, sie sucht Zuflucht bei einer „ausgedachten" Mutter, die lieb und fürsorglich ist, im Gegensatz zu ihrer echten Mutter und der Trostlosigkeit, in der sie als kleines Mädchen lebte:
„...ich begriff mit einer Klarheit wie nur zu wenigen anderen Zeiten meines Lebens, dass die Isolation meiner Kindheit, die Angst und Einsamkeit, mich nie ganz loslassen würden."
Meine Kindheit war ein einziger Lockdown gewesen."
Immer wieder wird sie von Panik, Entsetzen und Verzweiflung gepackt – wenn sie an ihre Arbeit denkt, an ihre New Yorker Wohnung, an David, ihren zweiten Ehemann, der vor einem Jahr gestorben ist, an ihre Töchter. Aber mehr als Gespräche, Spaziergänge und Natur bleiben nicht in dieser Zeit. Langsam lernt sie, darin Ruhe zu finden, neuen Menschen mit Offenheit zu begegnen, die sie sonst vermutlich nie interessiert hätten. Und sie tastet Erinnerungen ab, begegnet verdrängten Verletzungen.
Es ist ein langsamer Prozeß, in den sie durch die Pandemie gezwungen wird, und doch es ist im Rückblick ein heilsamer, der die beiden Ex-Eheleute wieder zueinander finden läßt.
Gefühlschaos
Elizabeth Strout beschreibt diesen Prozeß langsam und eindringlich, in ihrer klaren, schnörkellosen Sprache. Sie läßt Lucy immer wieder scheinbar banale Aussagen machen, die wie Merk- oder Leitsätze klingen und ein seelisches Gerüst zu werden scheinen, an dem sie sich festhalten kann bei diesem intensiven Blick nach innen. Vielleicht. Irgendwann geht dieser Blick auch wieder nach draußen, und was dort passiert, ist ungeheuerlich: Brutaler Rassismus im Fall der Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weißen Polizisten, Angst um die Demokratie beim Sturm auf das Kapitol in Washington DC nach einer verlorenen Präsidentschaftswahl.
Auch William verändert sich, geht immer wieder zum alten Wachturm auf der Insel, der für deutsche U-Boote erbaut wurde. Er entdeckt das Thema „Klimawandel" für sich und beginnt, genauer auf sein Leben zu schauen: Auf den Großvater, der sein Geld mit Waffen verdient hat,
„...dieser böse alte Mann ... hat am Zweiten Weltkrieg verdient ... Er war ein Großindustrieller, dem es nur um seinen Profit ging, und den hat er gemacht – durch den Krieg."
Die Pandemie wirft die Menschen auf sich selbst zurück, löst Gefühle und Erinnerungen aus, mit denen Elizabeth Strout tief in das Innenleben ihrer Figuren schaut. Ein ruhiger, einfühlsamer Roman, in dem sich eine Gesellschaft verändert und mit ihr eine Familie. Er verfolgt die Pandemie bis zur sehnsüchtig erwarteten und zugleich aggressiv bekämpften Impfung, die aus dem Ausnahmezustand wieder ein normales Leben macht – nur gänzlich anders als zuvor.
(Christiane Schwalbe)
Elizabeth Strout , *1956 in Portland, Maine, zählt zu den großen amerikanischen mehrfach ausgezeichneten Autorinnen der Gegenwart; ihre Bücher sind internationale Bestseller, sie lebt in Maine und in New York City. Es ist der 4. Band in der Reihe der Lucy-Barton-Romane.
Elizabeth Strout "Am Meer"
Deutsch von Sabine Roth
Roman, Luchterhand 2024, 286 Seiten, 24 Euro
eBook 12,99 Euro, Audio-CD 20,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Elizabeth Strout
Die Unvollkommenheit der Liebe, Roman