Colin Niel
Darwyne
„Vielleicht kommt das ein bisschen von ihr. Dass er so ist, wie er ist. Ein kleines Opossum. Ein Drecksvieh. Ein widerlicher dreckiger Makake.“ So sieht der zehnjährige Darwyne sich selbst, so beschimpft ihn seine Mutter Yolanda. Wie eine Göttin verehrt und bewundert er sie, doch sie ist eine strafende Göttin, die ihn quält, wenn er nicht lernt, nicht gehorcht, nicht so funktioniert, wie sie es für richtig hält.
Elend im Slum
Im Slum von Bois Sec am Rande des Amazonas-Urwalds ist das für Darwyne nicht leicht, denn er ist seit seiner Geburt ein wenig beeinträchtigt, und erst im Wald kann er all seine beachtlichen Fähigkeiten entfalten, hier ist er geborgen und ganz er selbst.
„Es ist ein Wohlgefühl, hier geht es ihm so gut wie sonst nirgendwo, vergessen die Schule und die undurchsichtigen Anweisungen des Lehrers, vergessen der Stiefvater, der ihm seine Mutter stiehlt und ihm Böses will, genau wie seine Vorgänger, vergessen die Jugendhilfe. Er wird zu einem anderen Darwyne, von seiner Bürde und den Blicken befreit.“
Colin Niel entwickelt Darwynes Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven: Seine Mutter Yolanda, eine schöne, stolze und sehr fleißige Frau, kämpft gegen das Elend im Slum, für das sie den stetig vordringenden, verhassten Dschungel verantwortlich macht. Ihre wechselnden Partner verschwinden einer nach dem anderen, und Johnson, dem neuen Mann, ist das schweigsame, fremdartige Kind unheimlich. Auch die Lehrer wissen kaum, was sie mit Darwyne anfangen könnten, doch der engagierten Familienhelferin Mathurine, die Anthropologie studiert hat, lässt der kleine, gebückte Junge keine Ruhe.
Besondere Begabung
Ihre Aufmerksamkeit und ihr waches Interesse werden zum entscheidenden Motor der Handlung: Als sie Darwyne zu einem Ausflug in den Urwald Amazoniens mitnimmt, wird sie Zeugin seiner besonderen Begabung und der fast unheimlichen Nähe zur wilden Natur. Für sie, die den Urwald liebt, ist die Unkenntnis der Menschen, ihre Abspaltung „von der riesigen, lebendigen Welt, die sie umgibt“, traurig und schwer zu ertragen. Als kinderlose, unverheiratete Frau hat sie selbst eine Außenseiterposition und wird für uns zur Mittlerin zwischen der scheinbar so zivilisierten Welt und der ungebändigten Wildnis, und es gelingt ihr, einen vorsichtigen Einblick in Darwynes Gedanken zu bekommen und seine Hingabe an den Wald zu verstehen.
„Er hatte das Gefühl, nicht mehr so wachsam sein zu müssen. Weil die Frau in der Lage war, das zu begreifen, weil sie ebenfalls etwas von alldem in sich trug. Nur ein klitzekleines bisschen. Nicht so wie er, nein, natürlich nicht.“
Der Urwald lässt sich nicht bändigen, und als ein gewaltiger Erdrutsch einen Teil des illegal und unkontrolliert entstandenen Slums zerstört, kehren sich auch die gewohnten Machtverhältnisse in Darwynes Familie um. Die absolute Ergebenheit des Jungen kommt ins Wanken, und Colin Niels Roman lotet die komplexen Gefühle von Mutterliebe, Hass und Zorn auf einzigartige Weise aus. Niel schreibt dicht und beklemmend, atmosphärisch stark und mit vielen Details, die uns die Menschen, die Hitze, den Dreck und die Kargheit des Lebens physisch miterleben lassen.
Grausame Natur
Mit seinem Nebel, den Tieren und der spektakulären Vegetation wird der Regenwald zum wichtigen Protagonisten mit zwei Gesichtern, der die wilde Schönheit mit der gnadenlosen Grausamkeit der Natur in sich vereint. Die Besonderheit eines Kindes, das sich in eine fast magische Beziehung zu diesem Wald geflüchtet hat und, früh traumatisiert, von Menschen schwer zu erreichen ist, würdigt er in dichter, facettenreicher Sprache, unsentimental und respektvoll, ohne dabei die Elemente eines guten Thrillers mit sich stetig steigernder Spannung zu vernachlässigen. Dem kreolischen Fabelwesen aus der Folklore Guayanas namens Maskilili mit den umgedrehten Füßen hat Colin Niel seinen kleinen, tapferen Helden nachempfunden. Nicht zufällig erinnert Darwynes Name an den großen Entdecker Darwin und an „The Survival of the Fittest“.
(Lore Kleinert)
Colin Niel, *1976 in Clamart, Studium der Evolutionsbiologie und Ökologie, Agrar- und Forstingenieur, arbeitete mehrere Jahre in Französisch-Guayana, gehört zu den aufregendsten französischen Schriftstellern unserer Tage, lebt in Marseille.
Colin Niel „Darwyne“
aus dem Französischen von Anne Thomas
Thriller, Suhrkamp Verlag 2024, 302 Seiten, 18 Euro