Jackie Thomae
Glück
„Was stimmt nicht mit mir, bin ich aussortiert worden, war das die natürliche Auslese? Nein, sagte die Stimme der Vernunft, ich habe die Wahl gehabt, sogar Zeit. Und was sollte auserwählt bedeuten? Die Mütter, die ihr begegneten, sahen weder aus wie Auserwählte, noch schienen sie sich so zu fühlen.“
Mutter werden
Doch die ‚Stimme der Vernunft‘ ist nicht immer die einzige, der eine Frau von knapp vierzig Jahren freudig folgen möchte – jedenfalls dann nicht, wenn sie von heftigen Wünschen geplagt wird. Dem Wunsch, doch Mutter zu werden, nicht an zeitliche Zyklen des weiblichen Körpers gebunden zu sein, frei entscheiden zu können, auch in fortgeschrittenem Alter. „Ich sehe eine Tür, die sich langsam schließt“, sagt Marie-Claire Sturm, die erfolgreiche Moderatorin, und die ebenso erfolgreiche Senatorin Anahita Martini hat den ersten Weinkrampf seit Jahren, wenn sie sich als „alte, kalte, kinderlose Tante“ der Kinder ihrer Geschwister imaginiert. Jackie Thomae lässt beide Frauen bei einem Interviewtermin kurz aufeinandertreffen, und viel später, nach drei Jahren, begegnen sie sich noch einmal.
Glück neu denken
Wir lernen sie kennen, mit all ihren Zweifeln, und die Autorin nimmt sich viel Zeit, die Widersprüchlichkeit im Leben ihrer Protagonistinnen und auch vieler Menschen um sie herum genau zu erkunden. Sie vermeidet jegliche Klischees, und deshalb eröffnet ihr Roman eine Fülle von Möglichkeiten, das Leben von Frauen und das Versprechen von Glück neu zu denken, jenseits aller vorgezeichneten Bahnen. Was ist neu, was hilfreich, und unter welchen Umständen? Und wann und wie genau? Und womit lohnt es sich auseinanderzusetzen? Angst spielt dabei eine große Rolle, auch wenn man sich ihr lange entzogen und ihr aus dem Weg gegangen ist. Doch jeder Weg, auch darin ist die Autorin sehr präzise, kostet seinen Preis.
„Angst vor dem Leben ihrer Mutter, Angst vor der Wiederholung dieses Schemas, Angst, eine Frau zu werden, die zu einem Schatten wird. Sie stand an einer Weggabelung, beide Wege führten in die Angst. Mutter zu werden, keine Mutter zu werden. Eine Frau, die nichts vorzuweisen hatte außer ihrer Karriere.“
Einer Karriere allerdings, auf die eine Frau mit Kindern möglicherweise hätte verzichten müssen.
Angst überwinden
Im zweiten Teil des Buches, die beiden Frauen sind inzwischen zweiundvierzig Jahre alt, spielt Jackie Thomae mit der Möglichkeit, das Ende weiblicher Gebärfähigkeit weit hinauszuschieben. Eine fiktive Möglichkeit, aber durchaus denkbar, die neue Herausforderungen bietet. Anahita, inzwischen Parlamentarierin in Brüssel, nutzt ihre Chance, das Leben noch einmal anders kennenzulernen und ihre Angst zu überwinden.
„Sie befürchtete nicht mehr, erwischt, gehasst, bedrängt, blamiert, hintergangen zu werden. Sie hatte keine Angst mehr vor ihren Fehlern. Sie hatte keine Angst mehr vor den anderen und vor der Zukunft.“
Thomae betreibt keine Schönfärberei und bleibt skeptisch gegenüber Wunschvorstellungen und Utopien. Das Leben in der Provinz, auf dem Lande zeichnet sie ebenso genau wie die Erfahrungen der erfolgreichen Stadtbewohnerinnen aus der Mittelschicht mit den scheinbar größeren Chancen, sich zu verwirklichen. Das Szenario der Kinderlosigkeit, für Mütter in abgelegenen Gegenden exotisch, spielt sie bewusst nicht gegen die Ärmeren und Chancenloseren aus, etwa wenn Marie Claire sich mit ihrer eigenen Familie auseinandersetzt.
„Ich ohne all das hier, wie wäre das? Keine von ihnen würde ihre Kinder hergeben, darum ging es nicht. Es ging darum, die Möglichkeit eines komplett anderen Lebens kurz zu streifen. Ohne sich danach zu sehnen, aber auch ohne Angst davor zu haben. Diese Frauen zeigten ihr, dass es immer vorhanden war, dieses Parallelleben, das man eben nicht lebte.“
Bemerkenswert ist an diesem Roman, der mitunter etwas ausufernd geraten, aber immer gut lesbar und mit reichlich lässigem Witz angereichert ist, mit wieviel Respekt Jackie Thomae den jeweiligen Lebensformen und Glücksmöglichkeiten begegnet, sie würdigt, überprüft und farbenfroh ausmalt, weit über das Kinderwunsch-Thema hinaus.
(Lore Kleinert)
Jackie Thomae, *1972 in Halle/Saale, deutsche Journalistin und Schriftstellerin, lebt in Berlin.
Jackie Thomae „Glück“
Roman, Claassen Verlag 2024, 432 Seiten, 25 Euro
eBook 19,99 Euro
Weitere Buchtipps von Jackie Thomae auf dieser Seite: "Momente der Klarheit" und "Brüder", Romane, beide Hanser Berlin