Joachim Meyerhoff
Man kann auch in die Höhe fallen
Beliebtes Fast Food von Mutter Meyerhoff: Der Döner vom Bahnhofskiosk und die Currywurst am Strand – Auto fährt sie ebenso rasant wie leichtsinnig und verspricht „Die grüne Hölle wartet bereits auf dich.” Gemeint ist ein riesiger Garten, in dem die 86jährige mit Hingabe gräbt, pflanzt, mäht, Unkraut jätet, Bäume und Büsche stutzt, Gäste empfängt und Graureiher mit dem Luftgewehr erschreckt. Hier - sagt sie - ist sie so glücklich wie noch nie in ihrem Leben, in dem das Glück sich rar gemacht hatte.
Mutter macht Mut
Der Sohn ist aus Berlin gekommen, um „länger zu bleiben”:
„Ich redete mir ein, sie bedürfe dringend meines Beistands ... Ich hingegegen war derjenige, der nicht mehr klarkam und dem viele Fäden gerissen waren."
Wien und sein Schlaganfall, verarbeitet in „Hamster im hinteren Stromgebiet", sind Vergangenheit, aber er ist ein Nervenbündel, tritt auf der Stelle, liegt am liebsten auf der Couch und knabbert an Bleistiften oder Brillenbügeln, statt zu schreiben – eine Last für sich und seine Familie:
„Ich haderte mit Berlin, der Stadt, in der ich seit fünf langen Jahren versuchte, heimisch zu werden, und ich haderte mit meinem Beruf, der Schauspielerei, die ich über drei Jahrzehnte mit Hingabe, gar mit Obsession betrieben hatte.”
Er sucht Ruhe, Konzentration und einen Neuanfang. Den hofft er bei seiner Mutter zu finden, deren außergewöhnliche Aktivität zu den schönsten Geschichten über sie animiert - Mutter isst, Mutter taucht, Mutter singt und: Mutter macht Mut. Das ist es, was er braucht. Und er findet ihn nicht nur in ungewohnter körperlicher Anstrengung und im Schreiben über den ungewöhnlichen Alltag seiner quirligen Mutter wieder, sondern auch im anregenden oder tröstlichen Gespräch mit ihr – nach Saunagang und mit einem Whiskyglas in der Hand. Wie wenig glücklich ihr Leben verlief, auch davon erzählt Meyerhoff, und von der Kraft und Energie, die sie "in die Höhe fallen" ließ. Und die im Alter nicht nachzulassen scheint, ganz im Gegenteil.
Zwischen Chaos und Fantasie
Ein kleines Heftchen aus Kindertagen hat sie für ihn aufgehoben, das seine Freude an Geschichten schon als Kind beweist und längst verschüttete Erinnerungen weckt. Dazu Gartenarbeit, Reden, Schwimmen - die Wörter beginnen langsam wieder zu fließen, richten sich ein zwischen Ostsee, Mutter und Theater, Alltagschaos und Berliner Familie. Auch nach Wien kehrt er als Erzähler noch einmal zurück, um den Keller zu räumen. Als die Entrümpelungsfirma das Chaos in Augenschein nimmt, beginnt sie neu zu rechnen:
„Das Schlimmste allerdings war, dass überall Dinge auftauchten, die ich völlig vergessen hatte und die wegzugeben mich überforderte ... Soviel Zeug, das Zeit eingeatmet hatte, Lebenszeit, Familienzeit, Gedankenzeit ... Hektisch wühlte ich in den Kisten herum, riss dies oder jenes an mich, kletterte sogar in den Entrümpelungslaster und zerrte einen Lampenschirm der Großeltern wieder heraus..."
Selbst Leberkäsesemmeln stimmen die Männer nicht um, als Muslime können sie die ohnehin nicht essen, gnadenlos schleppen sie Stück für Stück aus dem Keller, stopfen die Erinnerung gewordenen Gegenstände in den Laster, während der Boss ebenso gnadenlos seinen Taschenrechner füttert. Das ist nicht nur ein erzählerisches Glanzstück sondern auch als groteske Filmszene vorstellbar - mit Meyerhoff in der Hauptrolle, versteht sich.
Mit Bravour
Von solchen tragisch-komischen Vorfällen, erzählt mit einer überbordenden Lust am Fabulieren und einer Menge Selbstironie, gibt es viele: Erinnerungen an mehr oder weniger gelungene Theaterinszenierungen, unfreiwillig komische, weil anders geplante Auftritte, die Tücken sich selbständig machender Requisiten. Immer liegen die Geschichten zwischen Komik und Ernst und anrührenden menschlichen Begegnungen - im Leben und auf der Bühne. Zwischendrin wuselt die Mutter – real und im Erzählten, egal, ob sie wandert, eine Idee hat, die Toten aufs Land holt oder „mich liest". Denn eine völlig vergessene und vor mehr als zwei Jahren gegebene Zusage, in einem Lübecker Buch-und-Wein-Kontor aus noch unveröffentlichten Texten zu lesen, wird plötzlich wieder aktuell. Mutter und Sohn machen sich auf den Weg, aber der wiedergewonnene Mut wandelt sich zunehmend in puren Stress und schließlich in Panik, begleitet von einer
„Streß-Schweiß-Attacke auf dem Rücken und, dadurch verursacht, eine großflächig piksende allergische Hautreaktion. Meine Zehen fingen an zu jucken. .. Ich zog mir Schuhe und Socken aus und hielt abwechselnd meine nackten Füße aus dem Fenster in den Fahrtwind, um sie zu kühlen. 'Du bist ja ein richtiger Sonderling geworden', befand meine Mutter." ...
Und als dieser „Sonderling" von seiner Panik buchstäblich niedergestreckt wird, entscheidet sie: „Ich lese für ihn". Unvorbereitet, ohne Wissen, was da inhaltlich auf sie zukommt und ohne jede Erfahrung vor Publikum gestaltet sie den Leseabend mit Bravour, als hätte sie die Texte selbst geschrieben.
Na bravo
Ein wunderbar unterhaltsames, versöhnliches, temperamentvolles und anrührendes Buch, das sechste in Meyerhoffs autobiografischen Reihe, und vielleicht das bislang liebevollste, weil er neben seinen zum Teil umwerfend komischen Anekdoten als Schauspieler ein außergewöhnliches Mutter-Sohn-Verhältnis beschreibt. Das eine besondere Pointe hat.
Gefragt, ob es ein Buch wird, was er in den Monaten bei ihr geschrieben hat, sagt er: „Ich weiß es nicht, Mama.”
Und sie antwortet:
„Ich würde, ehrlich gesagt, lieber doch nicht drin vorkommen.”
„Na bravo.”
(Christiane Schwalbe)
Joachim Meyerhoff, *1967 in Homburg/Saar, 14 Jahre lang Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters, seit 2019 Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne
Joachim Meyerhoff "Man kann auch in die Höhe fallen"
Roman, Kiepenheuer und Witsch 2024, 368 Seiten, 26 Euro
eBook 22,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Joachim Meyerhoff
"Hamster im hinteren Stromgebiet"