Maren Kames
Hasenprosa
Shortlist Deutscher Buchpreis 2024
„Die Zeit des Fliegens und die Zeit des Stürzens, Zeiten des Wachsens und Zeiten des Schrumpfens, die Zeiten der Aufruhr und die Zeiten der Ruhe. Alle unüberschaubar vielfältigen Ausprägungen beckenartig ausgedehnter, brocken- und keilförmiger oder schleierhafter Phasen von Zeit, und wie schlecht sich ausmachen ließ, in welcher man sich momentan befand.“
Großmutter
Mit einem Hasen als Begleiter lassen sich all diese Phasen der Zeit durchqueren wie im Traum, alle Schlupflöcher erkunden und geschwind wieder verlassen, in einer Bewegung hin zu sich selbst. Doch Maren Kames‘ Spiegel sind viel zu kunstvoll, als dass sie glatte, eindeutige Bilder liefern könnten. Selbst in der Annäherung an die Nazigeschichte ihrer Familie sind die Bruchstücke und Splitter der Erinnerung vielsagender und genauer als alle vorgefertigten Urteile.
„Dass ich über diese Oma eine Erinnerung an eine Bitterkeit habe, die nicht mir gehört, nicht meine ist, mich an meine aber erinnert und sie darin abfängt, manchmal aufhebt – wie ein undeutlich schimmernder, nicht für alle sichtbarer Punkt, mit dem ich mich verbinden darf, weil sie meine Großmutter war.“
Mit dem Hasen beginnt die Reise, doch anders als die der kleinen Alice führt sie nicht ins Wunderland, sondern in Zeiten und Sphären, in denen Linearität und Logik keinen Sinn machen, der Meeresgrund berührt werden muss, um mit kleinen Bruchstücken und Erinnerungsfetzen wieder auftauchen zu können. Während der langohrige Begleiter Mandelkerne knabbert, auch Zwetschgengeist nicht verschmäht und die Entstehung der ersten Lebewesen Revue passieren lässt, gewährt die Ich-Erzählerin ihren Träumen und Einfällen freien Lauf.
Verlockungen
Aus dem Kambrium arbeiten sich beide vor bis in die Gegenwart, auf Brücken neu entworfener Sprache, in der Hoffnung, „dass einem Oben und Unten mal gründlich vergehen. Die Bereitschaft, zu vergessen, was man weiß, wie es ist, und was das soll“. Was bereits vergangen ist, entlockt der Hase der Frau und verlockt sie zum Flug im Strichflieger, wo sie zwar flennt, „um mein eigenes, abhanden gekommenes Gegenwärtig- und Anwesendsein“, doch umso beherzter dringt sie in die von ihr selbst gesuchten Formen und Strukturen vor. Der Hase führt das große Wort, ein protzig-ungebundener Geist mit Instinkt und Fell, ängstlich und allwissend, lästig und verführerisch zugleich:
„Ich bin so rastlos wie versunken, und so klug, wie ich dumm bin. Mit mir musst du dich nicht entscheiden. Das ist die Anstrengung, und das ist die Entlastung. Ich bin deine Fiktionalisierungsoption, ein Illusionsgarant, eine Ablenkungsturbine, deine Simsalabimdoktrin. Hell yeah, ich bin Jesus. Ein Heilandshase. Wir sind die Sultane von Swing, und jetzt komm mit mir in den hintersten Winkel der naheliegendsten Galaxie.“
Wunderwerk
Zielsicher fällt er immer mal wieder durch Löcher, und Maren Kames spielt hinreißend mit literarischen Anspielungen, sprachlichen Ausflügen zu anderen Dichtern, lässt sich von Soundtracks inspirieren und von Fotografien, vom Sternbild des Alpha Leporis etwa oder vom Großvater mit seiner Enkelin. Weltfremd ist sie keineswegs, nimmt die Unfähigkeit, Worte für die neuen Kriege zu finden, ins Visier:
„Dies ist die Sachlage, hier sind die Vokabeln, Buzzwords, und so sprechen wir jetzt: BETROFFENHEIT!, rufen die immerzu aufstehenden Münder, KRIEG!, schreien sie, VOR DEN TOREN EUROPAS, (crescendo) UNSERER HAUSTÜR!, (fortissimo) IM 21. JAHRHUNDERT. Als hätte sich das durch Frieden bisher irgendwie hervorgetan.“
Es lohnt sich, hin und wieder auch laut aus dem Buch zu lesen, denn dann wird der besondere Klang von Kames‘ lyrikgeschulter Sprache in seinem sorgfältig komponierten Rhythmus und seinem Reichtum an Wortschöpfungen besonders gut erfahrbar. Eine Verbeugung vor der Kunst Friederike Mayröckers steht nicht zufällig gleich am Anfang des Buchs: „das verzweigte, verzwergte Gehirn behielt alles für eine Weile, dann ließ es alles wieder los!“ Es lohnt sich in jedem Fall, sich von diesem kleinen Wunderwerk, dem ersten Roman der schon vielfach preisgekrönten Schriftstellerin bezaubern zu lassen und sich ihrer, wie sie es nennt, „dahinkonstruierte(n) Bescheuertheit“ mit Genuss zu überlassen.
(Lore Kleinert)
Maren Kames, * 1984 in Überlingen/Bodensee, deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin, lebt in Berlin
Maren Kames „Hasenprosa“
Roman, Suhrkamp Verlag 2024, 182 Seiten, 25 Euro
eBook 21,99 Euro