Nora Bossong
Reichskanzlerplatz
Longlist Deutscher Buchpreis 2024
„Mama hätte gemerkt, dass Madame Quandt auch unseren Namen nur wie eine Maske trägt", sagt Hellmut über Magda, geborene Ritschel, später Friedländer wie ihr jüdischer Adoptivvater, und nun Hellmuts Stiefmutter. „Sie wechselt so oft ihren Namen und ihren Glauben ...was weiß ich, was sie in Wirklichkeit ist. Vermutlich kann sie das nicht mal selbst sagen."
Gesellschaftlicher Aufstieg
Den Großindustriellen Quandt lernt Magda im Zug kennen. Er ist doppelt so alt wie sie und verwitwet - eine gute Partie, die den Aufstieg in die Oberschicht garantiert. Und das will Magda – aufsteigen, Bedeutung bekommen, ihre Vergangenheit löschen. Seine eher abfällige Meinung über die neue Mutter äußert der Sohn gegenüber Hans, der sich in ihn verliebt, seine Homosexualität aber verbergen muss, denn sie ist strafbar. Er beobachtet Magda sehr genau:
„Sie .. war etwas zu bemüht, dem zu entsprechen, was sie meinte darstellen zu müssen. ... Was sie war, konnte sie schließlich nur durch Quandts Gnaden sein, und immer trug sie die Warnung mit sich, wieder zu dem zu werden, was sie einmal gewesen war, das uneheliche Kind eines Dienstmädchens."
Hans ist der Ich-Erzähler und spätere Liebhaber von Magda. Nora Bossong wählt seine Perspektive, um Magda und ihren Aufstieg zu einer „First Lady" Hitlers und Vorzeigemutter zu beschreiben. Zunächst aber erleben wir ihn als Sohn eines schwer kriegsversehrten Vaters, als Suchenden, der sich in der Schwulenszene im Tiergarten rumtreibt, als Mann, der freiwillig zum Militär geht, dann studiert und seinen Aufstieg betreibt. Als Mitläufer, wie so viele, der die Entwicklung mit Blick auf den eigenen Vorteil beobachtet und mit Interesse in der Zeitung liest, dass Quandt zu den Gewinnern einer Zeit gehört, in der viele Menschen alles verloren haben, auch den Lebenswillen. Quandt „galt als rücksichtslos, wenn es um seinen wirtschaftlichen Vorteil ging."
Weg nach oben
Seine Frau läßt er wegen einer Affäre beschatten und als es um Scheidung geht, weist sie ihm nach, sie ebenfalls betrogen zu haben. Was ihr neben einer beträchtlichen Abfindung auch ein ansehnliches Domizil am Reichskanzlerplatz beschert. Dort nutzt sie erfolgreich ihre Kontakte als Ex-Ehefrau von Quandt – und lernt nicht nur Goebbels kennen, sondern auch Hitler, der schnell erkennt, mit welchem Fanatismus sie an den Nationalsozialismus glaubt. Parteieintritt, NS-Frauenschaft und schließlich der Auftrag, das Privatarchiv von Goebbels zu ordnen – Magda geht zielstrebig ihren Weg nach oben, um an der Seite von Goebbels eine der bekanntesten Frauen der NS-Zeit zu werden.
„Sie war nicht einfach nur verliebt in diesen Mann, und ich habe erst später Worte dafür gefunden: Mit ihm glaubte sie in den Himmel aufzusteigen, und alles darunter überließ sie der Hölle."
Gesellschaftsbild
Dies alles wird nicht geradlinig am Stück erzählt, sondern setzt sich aus vielen kleinen Beobachtungen zusammen, die der Ich-Erzähler über die Jahre hinweg als Liebhaber und später als Diplomat macht – mit einem stets leicht distanzierten, kühlen Blick auf die Frau, hinter der er sich als Homosexueller verstecken konnte. Er macht Karriere, passt sich an und bekennt sich zum Dienst fürs Vaterland, wenn es ihm Vorteile verschafft. Denn es fällt auf, dass er nicht heiratet. „Im besten Fall galt ich als Kauz, weil ich noch immer allein lebte."
Die eigentliche Hauptperson in diesem Buch ist also Hans Kesselbach, der Erzähler, und aus seinem Blickwinkel entstehen Konturen von Magda Goebbels. Ihre Rolle ist eingebettet in ein Gesellschaftsbild, erzählt wird in vielen kurzen Kapiteln, die unterschiedliche, gut recherchierte aber nicht unbedingt chronologische Beobachtungen erlauben. Es sind nicht die allseits bekannten, spektakulären Bilder und Ereignisse, die Nora Bossong entwirft, sondern die alltäglichen, schleichenden Veränderungen, das „wir haben ja nichts gewußt", die Angst, das sich Wegducken und Wegsehen.
"Ich weiß nicht, ob ich etwas sagen kann zu der Frage, wie zwangsläufig kam, was dann gekommen ist, nicht nur in Magdas Leben. Die Kundgebungen, die Fackeln und Aufmärsche. Und alles danach. Natürlich habe ich versucht, Magda, von diesen Leuten abzubringen ... Die Wahrheit ist, wir haben sie nicht genügend überzeugt. Vielleicht, weil wir selbst nicht überzeugt genug waren."
(Christiane Schwalbe)
Nora Bossong, *1982 in Bremen, Autorin von Romanen, Essays und Lyrik, lebt in Berlin
Nora Bossong "Reichskanzlerplatz"
Roman, Suhrkamp Verlag 2024, 296 Seiten, 25 Euro
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