Rasha Khayat
Ich komme nicht zurück
„Wir verstanden nicht, was genau das alles zu bedeuten hatte, die Banner und die Kerzen, die vielen Menschen auf den Straßen. Wir wussten nur, das hatte was mit dir zu tun. Mit Nabil und dir, mit Cem und Aylin und ihrer ganzen Familie.“
Kindheitstrauma
An Zeynas zwölftem Geburtstag kam die Nachricht vom Brandanschlag rechtsextremer Gewalttäter auf zwei Häuser in Mölln, in denen türkische Familien wohnten – drei Menschen starben, und Hannas Freunde Cem und Zeyna sind tief getroffen und empfinden anders als sie : „Es war, als wäre die Angst bei uns eingezogen, mitten in unsere Wohnung, und hätte sich breitgemacht.“ Hanna, inzwischen fast vierzig Jahre alt und Lehrerin in Berlin, ist in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, weil ihre Großmutter im Sterben liegt, und sie bleibt in deren Wohnung, in der Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet, wo die Freundschaft mit Zeyna und Cem ihren Anfang nahm. Mit Cem tauscht sie sich aus, noch immer, aber Zeyna, inzwischen Fotografin auch in Kriegsgebieten, hat die Freundschaft vor vielen Jahren beendet, will sie nie mehr sehen.
Mit behutsamen, fast kreisenden Bewegungen nähert sich die Ich-Erzählerin dem Trauma, das die leuchtende Kindheits- und Jugendfreundschaft vor vielen Jahren verschattete. Stück für Stück entreißt sie dem Vergessen die unterschiedlichen Erfahrungen, die das mit seinem Vater Nabil geflüchtete Mädchen aus Syrien und den Jungen türkischer Eltern die Verhältnisse anders erleben ließen als sie. Mutterlos waren beide Mädchen, doch Zeyna war rasch strahlender Mittelpunkt.
„Ich kannte keine Eifersucht, bis du in unser Leben kamst. Ich war der Mittelpunkt für Cem, wie eine Tochter für Aylin…Und dann warst du da, und alle bemühten sich um dich und Nabil. Sie sahen etwas, verstanden etwas, das mir verborgen blieb.“
Erinnerungen
Hanna stellt sich der eigenen Einsamkeit, die nicht nur durch das maskierte Dasein der Coronazeit verstärkt wird, das alle schweigsamer machte. Als die Türme New Yorks am 9. September 2001 zerstört wurden, wurden die Risse zwischen ihr und ihren Freunden tiefer, die Türme fielen zusammen, „Und wir fielen zusammen. In aller Stille.“ Doch auch persönlicher Schuld muss Hanna sich stellen, und wie in einer verzweifelten Beschwörung wiederholt sie auf zwei Seiten den immer gleichen Satz: „Ich will, dass sich jemand mit mir erinnert.“
Rasha Khayat spannt die Geschichte einer verlorenen Freundschaft in kunstvollen Bögen auf: Hannas Wahrnehmungen in der Stadt ihrer Kindheit, der Wohnung der Großeltern, dem Friedhof verknüpft sie mit den Erinnerungen, bei denen ihr Cem, der Jugendfreund, zur Hilfe kommt. Auch ihn muss sie neu sehen, alte Bilder an das Leben anpassen. Sehr poetisch schildert die Autorin durch Hannas Augen die Räume, die sich damals auftaten und die sich mittlerweile gewandelt haben:
„Meine Stadt lebt von ihrer eigenen Legende. Auf Kohle gebaut, aus Kohle geboren, zu Kohle zerfallen und aus Kohle wiederauferstanden. Sie lebt mit diesem schwarzen Herz, das nur noch ganz leise schlägt.“
Ihre Erinnerungen bilden Brücken in die vergangene Zeit. Zwischen den Leerstellen, die zu füllen nur unter Schmerzen gelingen kann, erschafft Khayat ein dichtes sprachliches Geflecht, mit dem sie die verlorene Freundschaft wiederbelebt und Fragen neu stellt. Ihre Protagonistin lernt, den Worten und dem Leben, das in ihnen bewahrt ist, wieder zu trauen. Denn wenn die Geschichte erzählt ist, ist man noch da, - verändert.
„Vielleicht ist es wirklich an der Zeit. Vielleicht hat er recht. Vielleicht kann ich die Worte sagen. Vielleicht kommst du dann zurück. Vielleicht kommen wir dann zurück.“
(Lore Kleinert)
Rasha Khayat, *1978 in Dortmund, aufgewachsen in Jeddah, Saudi-Arabien, mit 11 Jahren kam sie mit ihren Eltern wieder nach Deutschland, Studium Germanistik, seit 2005 freie Autorin und Dozentin, zahlreiche Auszeichnungen.
Rasha Khayat „Ich komme nicht zurück“
Roman, Dumont Buchverlag 2024, 176 Seiten 24 Euro
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