Tamara Štajner
Raupenfell
Beim Bachmann-Wettbewerb 2024 gewann Tamara Štajner den von den Kärntner Elektrizitätswerken gestifteten Kelag-Preis – Anerkennung für einen emotionalen und berührenden Text über eine traumatische Mutter-Tochter-Beziehung und die Unmöglichkeit, sich ihr zu entziehen. Die Jury war beeindruckt.
Leben in der Fremde
Ihr Debütroman erschien bereits vor einem Jahr und erzählt die Geschichten dreier Frauen, die in Wien leben und arbeiten. Dobrinka, Beatriz und Georgiana sind Migrantinnen, die sich einer fremden Kultur anpassen, ihre Lebenspläne ohne familiäre Unterstützung oder vertraute Freundschaften finden müssen. Während Beatriz sich nach Rückzug im Kloster sehnt, stürzt sich Dobrinka in Alkoholexzesse, um Angst, Verzweiflung und die Sehnsucht nach Liebe zu verdrängen. Alle drei Frauen sind ungewollt schwanger - und sie sind einsam, allein mit der Entscheidung für oder gegen ein Kind. Ihre Beziehungen zu Männern sind zwiespältig oder unglücklich. Dobrinka kommt aus Kroatien, sie arbeitet in einem Beauty-Salon und verläßt ihren Mann, nachdem er sie erneut geschlagen und vergewaltigt hat, kann sich aber nicht zu einer Anzeige durchringen:
„Heute wird er nicht mehr nach Hause kommen, da ist sie sich sicher. Morgen erst oder in zwei Tagen. Er ist mit seinen Jungs unterwegs, sagt er ... Sie hat sich daran gewöhnt. Doch wenn er diesmal zurückkehrt, wird sie verschwunden sein."
Jahrelanges Schweigen
Beatriz kommt aus Slowenien. Sie ist Pianistin und mit ihrem Professor liiert, der sie nicht nur bewundert, sondern ihr auch Beruhigungsmittel besorgt, von denen sie abhängig wird. Für ihre Geschichte wählt die Autorin zusätzlich eine andere Form, läßt sie ihr Leben in Tagebuch-Fragmenten erzählen – und in Rückblicken:
„Ich habe mein Wort gehalten. Fünfzehn Jahre lang habe ich niemandem davon erzählt. Jetzt frage ich mich, ob nicht genau dieses Ereignis der Auslöser für meine spätere Geschichte mit Leopold war. Ich war erst sechzehn."
Beatriz wurde von einem Lehrer sexuell missbraucht, und Leopold ist nicht nur 50 Jahre älter als sie, sondern auch verheiratet. Hilfe hofft sie im Kloster zu finden, zunächst nur als Gast. Allein Georgiana scheint halbwegs mit sich im Reinen zu sein. Sie ist Tochter einer rumänischen Mutter und eines französischen Vaters und ihr außergewöhnliches musikalisches Talent wird früh erkannt. Sie ist begabt, zielstrebig und fleißig und arbeitet als Cellistin bei den Wiener Philharmonikern. Und doch plagen sie Ängste:
„Sie hatte erwartet, die Schlechteste zu sein. Diese willkürliche Unsicherheit quälte Georgiana ihr Leben lang. Sie zog von einem Wettbewerb zum nächsten, von einer Zulassungsprüfung zur anderen, geplagt von Selbstzweifeln, und doch brillierte sie immer aufs Neue. Niemand wunderte sich mehr darüber als sie selbst."
In Portugal sucht sie Abwechslung, nachdem ihr Freund plötzlich verschwunden ist. Sie läßt sich in der Hafenstadt Porto auf eine folgenreiche Affäre mit einem Cafébesitzer ein, den sie körperlich eher abstoßend findet.
Kampf um Autonomie
Ungewollte Schwangerschaft, Gewalt, Fehlgeburt, Abtreibung - Tamara Štajner problematisiert Themen, die immer noch aktuell und tabuisiert sind. Die drei Frauen gehen ganz unterschiedlich damit um, ohne ihr Wissen kreuzen sich ihre Wege und verlieren sich wieder. Schmerzhaft genau beschreibt die Autorin ihre obsessiven Beziehungen, die nur scheinbar Auswege aus Einsamkeit und Fremdheit bedeuten, letztendlich aber in Abhängigkeit und Erfüllung weiblicher Rollenmuster führen. Detailliert. Subtil und einfühlsam betrachtet die Autorin die Mühsal, mit der Frauen um Autonomie und um ihre Rolle in der Gesellschaft kämpfen. Trotz eines oft leichten, fast heiteren Tonfalls und manchmal ungezwungener Dialoge ist das ein über weite Strecken bedrückender, gleichwohl fesselnder Roman, stellenweise etwas angestrengt und nicht immer ganz schlüssig konstruiert.
(Christiane Schwalbe)
Tamara Štajner *1987 in Slowenien, Studium Musik und darstellende Kunst in Wien, 2022 erschien mit »Schlupflöcher« ihr erster Gedichtband, sie lebt in Wien und im Rhein-Main-Gebiet.
Tamara Štajner "Raupenfell"
Roman, Verlag Das Wunderhorn 2023, 320 Seiten, 28 Euro
eBook 19,99 Euro