Andrew O’Hagan
Caledonian Road
„Sind wir in unserem Leben erst einmal eine gewisse Strecke gegangen, dann merken wir, wie mit jedem Schritt das Eis unter unseren Füßen dünner wird, und ringsum sehen wir, wie unsere Zeitgenossen einbrechen.“ Robert Louis Stevenson.
Leben ohne Risiko
Eine Erfahrung des schottischen Dichters, als Motto dem Roman vorangestellt, die Campbell Flynn, dem Kunsthistoriker, Autor eines Bestsellers über Hollands Kunst im Goldenen Zeitalter und Society-Liebling immer dichter auf den gut erhaltenen Leib rückt. Während die Folgen des Brexits und der Covid-Epidemie das Land erschüttern, sucht er nach neuen Wegen, schreibt anonym ein Buch über die Krise der Männlichkeit und lässt einen seiner Studenten immer mehr in sein Leben. Milo Mangasha, Sohn einer äthiopischen Lehrerin und eines Iren, nutzt seine Kenntnisse als Computer-Hacker, um Flynn immer tiefer ins Darknet hineinzuziehen und ihm die Illusionen der Kryptowährungen schmackhaft zu machen, und zugleich kritisiert er den Liberalen als Teil des britischen Establishments.
„Die Vorstellung von Gleichheit, die Welle, auf der Sie reiten, die gibt es einfach nicht … ich wette, Sie sind nie in ihrem Leben ein Risiko eingegangen, Sie haben nie wirklich versucht, etwas zu verändern.“
Dass beide vom anderen auch fasziniert sind und sich intellektuell herausgefordert fühlen, ist der genauen Beobachtungsgabe des Autors Andrew O’Hagen zu danken, der all seine Figuren mit einem hohen Maß an Widersprüchlichkeit und sozialer Ambivalenz ausstattet und obendrein genau über ihre Vorlieben in Sachen Bekleidung, Geschmack und Genuss Bescheid weiß. Beide Männer haben fragwürdige Jugendfreunde, beide sind mit allen nur möglichen Menschen verbunden, deren Wege sich immer mal wieder kreuzen und für unerwartete Wendungen sorgen. Während Flynn gemeinsam gegen die Ungleichheiten angehen will, sucht Milo die Gelegenheit, die korrupte und gierige Gesellschaft zu bestrafen und seinen Professor dafür zu benutzen. Doch das ist nur der dünne rote Faden, den der Autor entlang der Caledonian Road, „The Cally“, der Achse vom King’s Cross in den Norden Londons in die Domizile der Adligen und Reichen ebenso wie die heruntergekommenen Armenviertel zieht. Fast unmerklich verknüpft er ihn mit einer Fülle von Schicksalen.
Verlorene Seelen
Ein knappes Jahr dauert es, bis das Eis unter Campbell Flynns Füßen zerbirst, beginnend mit seiner absurden Geburtstagsfeier, die sein Sohn, ein erfolgreicher und manisch selbstbezogener DJ, ausgerechnet in Island in Szene setzt. Auf der einen Seite lernen wir die Adelscliquen kennen, die gemeinsam mit Brexitgewinnern, schwerreichen Russen und ihrem Kapital die Türen zu Londons Finanzwelt öffnen. Auf der anderen Seite tummeln sich deren Söhne und auch Töchter, verwöhnte Eliteschüler, die sich mit Drogen als Teil einer selbstgefälligen Kunst- und Modeszene feiern und unter erheblichen Identitätsproblemen leiden, „verlorene Seele(n) im Kaschmirpullover“, wie es eine Beobachterin, die Journalistin Tara formuliert.
„So ist das bei jungen Leuten, dachte Campbell. Wenn sie was Witziges hören, sagen sie ‚das ist witzig‘, statt zu lachen. Vielleicht war dies das eigentliche Wesen der Postmoderne: dass man Emotionen benannte, statt sie zu empfinden.“
Er selbst, der aus der schottischen Arbeiterklasse stammt und seine Chancen zum Aufstieg nutzte, erkennt die Gier und die Anmaßung der immer schon Herrschenden durchaus. Akribisch erkundet der Autor, ebenso wie sein Protagonist aus Schottland stammend, warum dieser sich immer mehr verstrickt, und wie er weder auf seine Privilegien verzichten noch von seinem elitären Selbstbild lassen kann. Als sein bester Freund aus Studienzeiten selbstzerstörerisch kriminell wird, kann er sich kaum von ihm trennen, zumal er vom Geld des skrupellosen Tycoons profitierte.
„Wenn er ihn so betrachtete, dann wusste Campbell, dass er William seit jeher gebraucht hatte, sein schlechtes Betragen wie das gute, und dass William die Folie war, vor der er bestimmte, wer er selbst war...auch wenn Campbell nie seine politischen Überzeugungen teilte, teilte er doch fast jede Flasche mit ihm. Es war der Gipfel männlicher Eitelkeit, sagte Campbell sich nun, wie jeder von ihnen beiden die Freundschaft mit dem anderen als Bestätigung des eigenen unabhängigen Geists ansah.“
Je mehr er die Gier, die endlose Verschwendung und die Verachtung der Arbeitenden erkennt, je mehr sich das optimistische England seiner Jugend als Sumpf von Anmaßung und Korruption entpuppt, umso weniger ist Campbell in der Lage, sich von seinen vermeintlichen Sicherheiten, dem Geld, dem Status, den Privilegien zu befreien. Seine Frau, eine der sympathischeren Figuren des Romans, erklärt es der gemeinsamen Tochter mit der Metapher des ‚falschen Selbst‘, das mit viel Mühe erworben und kaum mehr wieder überwunden werden kann.
Ohne Gewinner
O’Hagans Roman erzählt ebenso von den Menschen auf der Schattenseite, die mit allen auch illegalen Mitteln versuchen, in Großbritannien erfolgreich Fuß zu fassen, den jungen Männern, die sich aus ihren Clans zumeist nicht lösen können, den illegalen Einwanderern, die den höchsten Preis bezahlen, oft auch mit dem Leben. Er folgt beharrlich der Spur des Geldes und hält der britischen Klassengesellschaft einen Spiegel vor, ohne zu eifern oder auf abgegriffene Ideologien zurückzugreifen, und oft auch unterlegt mit sarkastischem, sehr britischem Humor, besonders treffend, wenn es um die Medien im Vereinigten Königreich geht. Lord Scullion, einer der zynischen Drahtzieher und ehemaliger Minister, für den es sicher etliche reale Vorbilder gibt, bringt es auf den Punkt:
„Eine Zeit lang haben wir aus diesen Parolen einen gewissen Nutzen gezogen, dieser Mär von Hoffnung und Veränderung…Das Leben war eine Abfolge von Spesen und Geschenken, von Vorstands- und Beraterposten, dann wieder zurück zum Crosstrainer, der Verheißung ewigen Lebens, des Vampirlebens dessen, der die Dunkelheit kennt und der weiß, wo er sein Blut saugen kann.“
Eine besondere Stärke des Autors ist zweifellos, dass er jede einzelne Perspektive seines umfangreichen Personals in adäquate Sprache fasst, so dass wir Leser und Leserinnen die Möglichkeit haben, alle Mitspieler und –spielerinnen sehr direkt kennenzulernen, ganz und gar unverstellt - ein Blick in das London des Jahres 2021, mit seinen glänzenden Oberflächen, all dem Spaß, und der Fäulnis in seinem Kern. Gewinner gibt es in diesem Spiel kaum. Damit steht der Roman in der Tradition großer Gesellschaftsromane früherer Zeiten, von Charles Dickens, Thomas Wolfe und etlichen anderen. Man sollte sich diesen dicken Roman keinesfalls entgehen lassen!
(Lore Kleinert)
Andrew O’Hagan „Caledonian Road“
aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Roman, Ullstein 2024, 784 Seiten, 30 Euro