Sally Rooney
Intermezzo
Zahnspange und Secondhand-Anzug – der erfolgreiche Anwalt Peter, Anfang 30, trifft seinen Bruder Ivan auf der Beerdigung des Vaters – und hat nichts als Unverständnis für den zehn Jahre Jüngeren übrig. Rooneys Roman untersucht akribisch die Dynamik zwischen den beiden und taucht tief in ihre gemeinsame Geschichte ein: das kleine Schachgenie, der ältere Beschützer, lange vorbei und doch nicht vergessen, und beides Söhne eines aus Osteuropa eingewanderten Vaters, der wenig mehr als seinen Hund hinterließ.
Unter Druck
Peter verstrickt sich immer mehr in den Beziehungen zu einer jungen Studentin und zu seiner ersten, langjährigen Freundin, die sich nach einem Unfall von ihm trennte und doch Freundin blieb. Rooney untersucht mit leichter Hand, wie er unter Druck gerät, nur noch mit Tabletten schlafen kann und schließlich auf den Abgrund von Lebensüberdruss und ultimativer Sinnlosigkeit zusteuert.
„Einst glaubte er, das Leben würde auf etwas zuführen, all die ungelösten Konflikte und Fragen würden zu einem krönenden Abschluss kommen. Seltsam unhinterfragte Überzeugungen wie diese, die sein Leben, seine Persönlichkeit stützen. Irrationaler Glaube an Sinnhaftigkeit. Er könnte morgens nicht zur Arbeit gehen, wenn er nicht glauben würde, dass die Dinge etwas bedeuten, das eine oder das andere. Immer ein Ziel und nie ein Ende.“
Zugleich erlebt Ivan, der sich den meisten Anforderungen der Gesellschaft verweigerte, bei einem Schachturnier den Beginn einer schönen Liebe. Margaret ist allerdings älter als er, geschieden, und sie glaubt nicht an eine Zukunft. Wie sie sich dennoch verliebt, leise und fast wiederwillig, entwickelt die Autorin mit großer Zartheit und genauer Beobachtungsgabe:
„Ist überhaupt noch etwas zurückgeblieben, das sich tatsächlich ereignet hat, etwas Wirkliches? So wie ein nicht erzählter Traum sich auflöst, der ohnehin nie wirklich war. Vielleicht besser in diesem Fall: ein Traum, dessen Ecken an keiner Realität befestigt sind, mit niemandem geteilt, im Nichts verschwindend.“
Tiefes Verständnis
Was lässt Menschen in Resignation fallen und ihre Träume preisgeben? Und wie könnte Hoffnung die verwirrten Beziehungsgeflechte durchdringen und alles verändern? Rooneys genaue, von Zoe Beck großartig übersetzte Sprache ist dem Brüderpaar und dem Frauenkosmos um sie herum auf den Leib geschrieben. Außerdem schreibt derzeit niemand so gut wie sie über Gefühlschaos, Hunde und sogar Sex. Ihr Roman ermöglicht tiefes Verständnis für Verlust, Trauer und menschliche Widersprüchlichkeit in unserer Gegenwart, denn am Ende werden sich die beiden ungleichen Brüder neu und anders begegnen, ausgelöst und gespiegelt auch von den Frauen.
„Und warum nicht? Warum nicht von ganzem Herzen annehmen, was das Leben ihr bietet.“ Ein Roman, reich an aktuellen Bezügen zu den Krisen und Herausforderungen moderner Gesellschaften und zugleich eine tiefschürfende Charakterstudie sehr unterschiedlicher Menschen.“
(Lore Kleinert)
Sally Rooney, *1991, irische Schriftstellerin, studierte am Trinity College, lebt in Dublin
Sally Rooney „Intermezzo“
aus dem Englischen von Zoe Beck
Roman, Ullstein Verlag 2024, 496 Seiten, 24 Euro
eBook 19,99 Euro