Mathias Enard
Tanz des Verrats
„Mehr als fünfzig Jahre danach träume ich immer noch von Ettersberg. Finstere Träume voller Angst, Verfolgung, Hunger, Tod und Folter. In diesen Albträumen tauchen unbekannte Gesichter auf, die ich nicht wiedererkenne. Errichtet mein Unterbewusstsein sein eigenes Lager?“
Suche nach Wahrheit
Buchenwald beim Ettersberg war das Konzentrationslager, das der berühmte Mathematiker und Widerstandskämpfer Paul Heudeber in Énards Roman überlebte. Vergessen hat er es nie, und dass er so lange, trotz aller Kritik, am Sozialismus und der Entscheidung für die DDR festhielt, war sicher eine Folge der Erfahrungen im Lager. Seine Tochter Irina wird, inzwischen siebzigjährig, Buchenwald und Weimar erst 2021 besuchen, die Stasiakte ihrer Mutter Maja im Gepäck. Zwanzig Jahre zuvor auf einem wissenschaftlichen Symposium zu Ehren ihres verstorbenen Vaters auf dem Wannsee bekam sie den Anstoß dazu, sich auf die Suche zu begeben, und auf der Suche nach einer schwer fassbaren Wahrheit verflechten sich die Ereignisse in unerwarteter Weise. Ihre Begegnungen und Erkenntnisse, durch Briefe und Gespräche angereichert, begleiten ihre Nachforschungen, auch über Maja, die im Westen Deutschlands Karriere als SPD-Politikerin machte, ihren Mann Paul in der DDR besuchte und ihm Privilegien ermöglichte.
Menschlichkeit
Der 11. September 2001 beendet die Konferenz auf einem Haveldampfer jäh, und Mathias Enard beschwört die seismografischen Erschütterungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die das Leben der Menschen um den Mathematiker Paul prägten. Er wirft Fragen nach der Poesie und ihrer Bedeutung auf, ebenso wie nach der Menschlichkeit in Zeiten von Gewalt und Krieg. „Haben unsere Träume ein besseres Gedächtnis als wir?“ Im Brief eines an der Konferenz beteiligten Wissenschaftlers, der in den 6oer Jahren eine Zeitlang der Geliebte ihrer Mutter war, erfährt Irina, dass dessen Tochter zur gleichen Zeit in den Twin Towers ums Leben kam:
„Manchmal kommt es mir vor, als hinge das alles auf undeutliche Weise zusammen, als wären wir alle miteinander verbunden wie eine Zahlenfolge, ohne dass wir richtig verstehen, wie.“
Kindheitserinnerungen
In einem zweiten Erzählstrang erfahren wir von der Flucht eines Deserteurs in mediterraner Landschaft, vermutlich während des Balkankriegs. In der poetischen Sprache eines Epos entwickelt Enard das Bild eines Mörders, der die Chance bekommt, seine Menschlichkeit, sich selbst wiederzufinden. Ein armer, noch junger Mann, der von Beginn des Krieges an kämpfte, zerstörte, tötete. Sein Gedankenstrom, fast in freie Verse gefasst, über die Begegnung mit einer geschundenen Frau aus seinem Dorf ist von Empfindungen getragen, Gerüchen, Erinnerungen an die Kindheit, von Furcht und Abwehr und Schuld und dem Trost der Tiere.
„…der Krieg fällt von ihm ab wie die Haut eines Aussätzigen, er verliert sie wie alten Schorf – das Gewehr liegt immer noch auf seinen Knien, und die Erinnerungen bleiben, die Frau, die auf der Steinbank liegt, ist ein Abbild der Körper, die er zu Tode gefoltert hat, eine Grabfigur für Hunderte von Toten. Er spielt mit den Patronen wie ein Kind…“
Flucht in die Abstraktion
Zwei Sprachen voller Brüche und voller Sehnsucht verflechten sich ineinander, zwei unterschiedliche Geschichten, die einander nur in der Fantasie berühren und Echos auslösen, kaum hörbar und doch über alle Grenzen hinweg. Dass Maja damals in Lüttich, 1941, auf der Flucht vor den Nazis, Paul nicht rettete, weil sie Angst hatte, wusste er längst, und an seiner Liebe zu ihr änderte es nichts. In einem Brief an sie spricht er von seiner Flucht in die Welt der Abstraktion:
„…die Mathematik ist ein Schleier über der Welt, er legt sich über die Formen der Welt, um sie vollständig einzuhüllen: Sie ist eine Sprache und ein Stoff, Wörter auf einer Hand, Lippen auf einer Schulter, die Mathematik reißt sich mit einer plötzlichen Geste los: Man kann die Wirklichkeit des Universums in ihr sehen“,
und für ihn war sie lange der andere Name für Hoffnung. Später, als es die DDR schon nicht mehr gab, schreibt er Maja einen letzten Brief:
„…wir werden den Sozialismus nicht mehr aufbauen, und man wird mich nicht mehr Genosse nennen – wir zahlen den Preis für unsere Unnachgiebigkeit, unsere Irrtümer und unsere zu große Unterwürfigkeit gegenüber den russischen Kriegstreibern.“
Schmerz und Schuld
Mathias Enard durchquert die Schatten der Geschichte, lüftet die Schleier, um zu zeigen, dass es hinter ihnen keine absolute Wahrheit gibt, nur die Verzweiflung derer, die ihrer Zeit ausgeliefert waren, als Opfer, Täter, Deserteure, Verräter. Alma erklärt auf dem Haveldampfer ‚Beethoven‘ am 11. September 2021:
„Beim Tanz des Verrats entdeckt man, was der andere einem verschwiegen hat. Es gibt nichts mehr zu verbergen, alles kommt ans Licht, alles wird verziehen, ohne dass man etwas gestehen müsste“ – für sie ein Tanz, den sie in schwierigen Zeiten tanzen musste. Irina, die Tochter, wird spät, als sie der Tätigkeit ihrer Mutter für den Auslandsgeheimdienst der DDR erfährt, vom Schmerz überwältigt und beklagt ihre Naivität und die Schuld ihrer Mutter, „ich spürte, wie meine Beine, mein Schritt, mein Bauch von Löchern, von Wunden durchbohrt wurden, und wie sich Weimar um mich herum auflöste, so löste ich mich in der Fälschung auf, es blieb keine Wahrheit mehr für mich übrig.“
Für den Autor ist auch das keineswegs das letzte Wort, sondern nur eine weitere Facette im Spiel möglicher Erfahrungen. Er weiß um die verwundeten Körper im heißen und im kalten Krieg, um die langen Schatten der Gewalt, um den Mut zu desertieren, und er stellt mehr Fragen als er beantwortet. Sein Roman ermöglicht eine Ahnung, dass, wenn die Vernunft nicht mehr ausreicht, die Literatur, die Poesie, das einzige Mittel ist, um zu verstehen, was mit uns geschieht. Zu seinem 60. Geburtstag schreibt Maja an Paul auf ein schönes Lesezeichen mit rotem Band:
„Du weißt ich verstehe Dich/in unserer jeweiligen Welt: Du verwandelst sie/ Ich verwandele sie/ Jeder von uns träumt/ Auf seiner Seite Träume/ Die identisch miteinander sind/ Auf seiner Seite der Welt/ Wie zwei/ Schlafende jeder von uns/ Ein Gefangener/ Seiner geschlossenen Lider.“
(Lore Kleinert)
Mathias Enard, *1972 in Niort/Westfrankreich, französischer Autor, ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt, lebt in Barcelona und Niort
Mathias Enard „Tanz des Verrats“
aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Roman, Hanser Berlin 2024, 253 Seiten, 25 Euro
eBook 18,99 Euro