Katja Riemann
Zeit der Zäune - Orte der Flucht
„Überall waren die Zäune, vor denen sich Menschen wiederfanden. Zäune, die wie große Metallgebisse in der Landschaft stehen und Schönheit und Lebendigkeit verschlingen. Und manchmal die Menschen fressen. Ich habe sie beschrieben in einer Zeit, die in Bilderflut ertrinkt. Worte sind langsamer als Bilder ...."
Schmerzpunkte der Welt
Und deshalb vermitteln sie eindringlicher, was es bedeutet, hinter den Zäunen zu leben, unfrei, ohne Identität, aber mit einem Ziel, selbst wenn es oft unerreichbar scheint. Worte können Empathie wecken für geflüchtete Menschen, für ihre traumatischen Erfahrungen, für ihre Sehnsüchte, ihre unerschütterliche Hoffnung. Katja Riemann beschreibt Leben im "Interim", in diesem diffusen „dazwischen" – Verlust der Geborgenheit, der Heimat, Flucht, Angst, Flüchtlingslager, Warten, Hoffen und ein einziges Ziel: Ankommen. In einer neuen Heimat. Katja Riemann ist fast drei Jahre lang immer wieder losgefahren – allein, „ohne ein Team an meiner Seite ... ohne eine Organisation, Institution oder Redaktion im Rücken". Hilfe bekam sie von Initiativen und NGO's vor Ort, die gemeinsam mit den Geflüchteten an Projekten arbeiten – Theater, Fotografie und Filme, wie im ReFOCUS Media Lab, einer Filmschule in Moria, über die Katja Riemann einen Dokumentarfilm gedreht hat. Symbol für die Menschen in den Camps weltweit ist eine überlebensgroße Puppe – Amal, ein syrisches Flüchtlingskind. Sie ist dreieinhalb Meter groß und 2021 von Syrien aus durch ganz Europa gewandert. Amal heißt Hoffnung:
„Sie hat lange Haare, trägt rote Stiefelchen und einen Rock. Ihre Wimpern sind lang (und elegant) und ihre Augen sind groß und erstaunt. Sie läuft und tanzt, sitzt und liegt, schläft, lacht, weint, kämpft und sucht. Bei und mit ihr ist eine ganze Theatertruppe.”
Schmerzpunkte der Welt
Riemann fährt nach Moria auf der Insel Lesbos, ein Flüchtlingslager, das immer wieder im Fokus der Öffentlichkeit steht, und in die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla, in die Lager „An den Zäunen", die hier besonders hoch und - mit Nato-Stacheldraht mit doppelseitigen scharfen Klingen gesichert - besonders brutal sind, falls es diese Steigerung überhaupt geben kann. Sie besucht auch Lager, die nicht in den Schlagzeilen auftauchen - an der bosnisch-kroatischen Grenze, im Nordirak und in Jordanien. Sie erzählt von legalen und illegalen Flüchtlingscamps, Dschungel genannt, in denen die Lebensbedingungen unbeschreiblich sind. Sie folgt auch dem „berühmtesten Flüchtling der Welt", dem Dalai Lama und den Spuren der Exil-Tibeter, die aus Angst vor Folter und Umerziehung in chinesischen Gefängnissen aus ihrer Heimat geflohen sind. Es ist eine Reise zu den „Schmerzpunkten der Welt", über die wir sonst wenig erfahren. Es sei denn, eine Katastrophe passiert, wie der Großbrand in Moria, der das Camp komplett vernichtet hat. Inzwischen gibt es das offizielle Moria 2 und den „Dschungel" drumherum: selbstgebaute Konstruktionen aus Paletten, Planen und Plastik. Ein Leben am Rande der Menschenwürde:
„Kleine Rinnen sind überall im Boden zu sehen ... Rinnen für was? Für Wasser? Für Urin? Für beides. Es ist gefährlich, in der Nacht auf die Toilette zu gehen ... der Weg kann noch so kurz sein, für Frauen und Mädchen kann er dramatisch enden...
Bizarres „Spiel”
Sie begleitet einen Arzt an die bosnisch-kurdische Grenze, wo er Geflüchtete medizinisch versorgt, die in illegalen Lagern leben, sogenannten „Squads". Hier hausen sie unter primitivsten Bedingungen, bis sie wieder ein „Game" wagen – das ist der Versuch, die Grenze nach Kroatien zu überqueren, die massiv geschützt wird:
„Dass es ein Game ist, ein 'Spiel' sein soll, ist bizarr. Manche Personen versuchen es bereits dreißigmal. Sollte man ihnen raten zurückzugehen? Nach Bangladesch zum Beispiel, das 8500 Kilometer von (der Grenzstadt) Bihać entfernt ist?"
Heißt: Menschen laufen Tausende von Kilometern bis hierher und warten im sogenannten „Bangladeshi Forest" mitten im Wald, um über die Grenze nach Europa zu kommen. Die einzelnen Squads sind nach Nationalitäten aufgeteilt, weil sich hier mitnichten eine Solidargemeinschaft bildet, sondern eine Hackordnung gilt. Das ist nur eine der vielen Geschichten, die Katja Riemann erzählt. Andere erfährt sie im Nordirak, wo sie den Traumatologen Jan Kizilhan in die Camps der Jesiden begleitet. Er hatte die Idee, einen Studiengang für Traumatologie an der Universität in Dohuk in der Autonomen Region Kurdistan einzurichten, um vor Ort Menschen auszubilden, die dann in den Lagern mit traumatisierten jesidischen Geflüchteten arbeiten:
„Es ist Teil der Therapie, die Geschichte der Traumatisierung immer wieder zu erzählen, um das Erlebte anzufassen und nicht in einem inneren dunklen Raum verrotten zu lassen, bis es die Person zerstört und zersetzt ... Eine körperliche Reaktion auf Traumata ist Ohnmacht. Der Körper schaltet das System aus, indem er Menschen in Ohnmacht fallen läßt. In Therapie-Sessions kann das wiederholt auftreten.”
Menschen im Interim
Es sind emotional beeindruckende Geschichten über die Fähigkeit von Heimatlosen, im Interim ihre Würde zu bewahren, Widerstandskraft zu entwickeln, sich Aufgaben zu stellen, so etwas wie Heimat zu schaffen im Provisorium ihres Lebens. Es sind berührende und schockierende Erfahrungen, sensibel und genau beobachtet. Sie trifft überall außergewönliche Menschen, die sie sogar im Lager gastfreundlich empfangen und üppig bewirten:
„Was geben wir? Was tun wir? Gelingt uns hier irgendetwas? Die Zuneigung und Freundschaft, die wir geben, wurden mannigfaltig übertroffen von der selbstverständlichen Gastfreundschaft, die kulturell manifestiert und verinnerlicht ist, als Teil der Persönlichkit und des Menschseins in der afghanischen Gesellschaft. ... Wo und wie wurde hier gekocht? Wie lange? Wo wurde eingekauft und womit?”
Ein zutiefst menschliches Buch über die Unmenschlichkeit – und über die bewundernswerte Eigenschaft von Menschen, selbst in diesem Interim Ideen zu entwickeln, zur Schule zu gehen, zu lernen, zu studieren und zu begreifen, dass es sich lohnt, gegen Widerstände und für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Aus der Filmschule in Moria kamen die Bilder für die offiziellen TV-Sender, der Unterricht dort hat nicht nur Fähigkeiten und Talente geweckt, sondern auch Kraft und Durchhaltevermögen. Es gibt in diesem Buch viele solcher Beispiele, dazu jede Menge Informationen über Initiativen, Organisationen, Dokus, Filme, Literatur, Zahlen, Apps und kluge Kommentierungen. Bemerkenswert ist die außergewöhnliche Sprache, die Katja Riemann gefunden hat – ehrlich, empathisch, direkt und unverblümt, aber auch sanft und poetisch. Das gibt der Schwere des Erzählten Leichtigkeit und Optimismus. Denn in ihrem Buch geht es nicht um Resignation, sondern – so fassungslos man angesichts mancher Geschichten auch ist - um Hoffnung und Zuversicht.
(Christiane Schwalbe)
Katja Riemann, *1963 in Kirchweyhe/Niedersachsen, Schauspielerin, seit 2022 UNICEF-Botschafterin, setzt sich für eine offene Gesellschaft und Menschenrechte ein, erhielt sie 2010 das Bundesverdienstkreuz am Band, sie lebt in Berlin.
Katja Riemann "Zeit der Zäune – Orte der Flucht"
S. Fischer Verlag 2024, 448 Seiten, 26 Euro
eBook 22,99 Euro, Hörbuch Download 15,95 Euro
Weiterer Buchtipp zu Katja Riemann: "Jeder hat. Niemand darf - Projektreisen". S. Fischer Verlag 2020