Anne Cathrine Bomann
Blautöne
Ein geliebter Mensch ist gestorben – der Tod ist zunächst ein Schock, dann löst er tiefe Trauer aus, die lang andauern kann. So ist das auch bei Elisabeth Nordin, deren kleiner Sohn nach schwerer Krankheit gestorben ist.
Eine Pille gegen Trauer
„Alles schmerzte. Sie fühlte sich, als hätte sie Grippe. Trauer ist wie Gicht, dachte sie, Trauer ist eine Krankheit, die einen zerfrisst ... Mein kleiner Junge ist tot, dachte sie, und ich habe mich selbst zum Weiterleben verdammt."
Auch Anna trauert, ohne sich das einzugestehen. Sie hat vor kurzem ihre Mutter verloren und versucht krampfhaft, sich abzulenken. Sie meidet Besuche beim Vater, geht Kickboxen und will möglichst schnell ihren Master in Psychologie machen - Trauer ist ihr Thema, angeblich zufällig. Aber ihr Professor lehnt eine Betreuung zunächst ab. Keine Zeit, denn an der Uni Aarhus läuft eine Trauerstudie in Zusammenarbeit mit einer dänischen Pharmafirma, die in Kürze das neue Medikament auf den Markt bringen will – eine Pille gegen die Trauer. Anna tut sich mit ihrer Kommilitonin Shadi zusammen, die ebenfalls über Trauer schreibt, auch sie hat etwas abzuarbeiten – Ängste und Zwangsneurosen, gegen die sie jede Menge Tabletten schluckt. Ihr Arbeitsansatz: „Trauer als notwenige Kehrseite der Liebe".
Kritische Fragen
An 400 Probanden wurde das Medikament getestet, die Ergebnisse sind aufschlussreich: Mehrheitlich haben die Versuchspersonen aus anhaltender, lähmender Trauer herausgefunden. Aber die Statistiken, Hirnscans und Beobachtungen zeigen auch Nebenwirkungen: Die Empathie der Menschen scheint insgesamt nachzulassen. An der Studie ist federführend die Chemikerin Elisabeth Nordin beteiligt:
„Auch wenn ein Großteil ihrer Arbeit im Verborgenen geschah, war sie überzeugt davon, dass niemand ... so viel Zeit auf seine Forschung verwandte wie sie, und zweifelsohne würde die Firma ihr bald einen ihrer größten Triumphe zu verdanken haben."
Vom finanziellen Profit ganz zu schweigen. Trauer als psychische Krankheit? Die Diagnose gibt es tatsächlich: „Prolonged Grief Disorder" oder „Anhaltende Trauerstörung", von der WHO aufgenommen in eine Liste psychischer Krankheiten, die 2022 in Kraft getreten ist.
Annas Professor findet immer mehr Unstimmigkeiten in den Ergebnissen der Trauerstudie, er sucht einen Probanden auf, der auffallend unbeteiligt vom Tod seiner Frau und seines Kindes spricht, studiert erneut Untersuchungen, endeckt weitere statistische Ungereimtheiten, die von seiner Studentin Shadi, die er einspannt, bestätigt werden. Sein Mißtrauen wächst. Und seine Angst, dass ein für Menschen gefährliches Medikament zugelassen wird. Auch Anna beginnt, kritische Fragen zu stellen: "Ist es wirklich richtig, dass selbst unsere Trauer, eine unserer grundlegendsten menschlichen Eigenschaften, pathologisiert wird? Dann sind es nicht die Trauernden, mit denen etwas nicht stimmt, dann ist es die Welt ... wir nehmen einfach eine blaue Pille und vergessen alles."
Gefühle manipulieren
Anne Cathrine Bomann enthüllt über Rückblicke, welche privaten Probleme die Protagonisten mit sich herumschleppen, wie sehr dadurch Alltag und Arbeit bestimmt werden. Diese Rückblicke verzahnen sich mit den Zweifeln an der Trauerstudie zu einem nahezu kriminalistischen Plot. Bomann, selbst Psychologin, nimmt die Rolle von Wissenschaft und Pharmaindustrie kritisch unter die Lupe und beleuchtet zugleich einen (wissenschaftlichen) Zwiespalt: Wie sehr darf man Gefühle, die zwar schmerzhaft, aber für den seelischen Verarbeitungsprozess notwendig sind, manipulieren, damit Menschen „funktionieren". Ein heikles und aktuelles Thema, sehr spannend erzählt.
(Christiane Schwalbe)
Anne Cathrine Bomann, *1983, Psychologin und Schriftstellerin, lebt in Kopenhagen
Anne Cathrine Bomann "Blautöne"
aus dem Dänischen von Franziska Hüther
Roman, Hanser blau 2023, 304 Seiten, 22 Euro
eBook 16,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Anne Cathrine Bomann
Agathe