Erika Pluhar
Gegenüber
Eine alte Frau erwacht aus einer Ohnmacht, sie liegt am Boden, draußen braut sich ein Gewitter zusammen, es ist heiß. Die Frau ist verwirrt, weiß nicht was passiert ist, hat Mühe aufzustehen, die Orientierung wiederzufinden. Ein Schwächeanfall.
Die Frau von nebenan
Ein nachvollziehbare Szene, denn Henriette ist fast achtzig und lebt allein, zurückgezogen, wenig interessiert an Kontakten mit Nachbarn.
"Eine Frau, die auf die achtzig zugeht, ist alt genug für jede Form von Hinfälligkeit und Verfall. ... Wer hätte sie eigentlich gefunden … Wenn man alt und familiär nicht eingebunden ist, wenn man alleine lebt und bislang den Eindruck machte, es funktioniere klaglos, … keine sichtbaren körperlichen Gebrechen, vernünftiges Grüßen und Gespräch möglich, dann schert sich keiner um einen."
Fraglos eine Situationsbeschreibung, die für viele allein lebende alte Menschen zutrifft. Aber Henriette hat Glück. Eine Nachbarin klopft hartnäckig an die Tür, hat das Fenster schlagen hören, will wissen, was los ist. Nur widerstrebend öffnet Henriette, lässt Linda, die junge Nachbarin, herein – und damit auch in ihr Leben.
Vorsichtige Annäherung
Bei aller Genauigkeit der Beschreibung von Hinfälligkeit und Schwäche im Alter macht dieser Roman alles andere als betroffen. Er schildert – weitgehend im Dialog – die vorsichtige Annäherung der beiden nicht nur altersmäßig so unterschiedlichen Frauen. Linda ist Friseurin, Henriette war eine gefragte Filmcutterin. Nach und nach erinnern sich beide an prägende Lebensereignisse, an Kindheit, Elternhaus und Beruf, lernen voneinander, begegnen sich zunehmend mit Interesse und Empathie.
"Als Henriette ihre Wohnungstür geschlossen hatte, lehnte sie sich von innen dagegen, als bräuchte sie Halt. War das alles zuviel? dachte sie. Zuviel des Guten? Zuviel Nähe? Würde ihr diese Bekanntschaft zur Last werden?"
Erika Pluhar begleitet die beiden Frauen über sechs Tage, dann wird der heißgeliebte Patensohn aus der Westsahara seine alte "Mum" besuchen. Ein Höhepunkt, auf den die fragile Bekanntschaft der beiden zusteuert, denn Henriette hat keine Familie und die Patenschaft für diesen "Sohn" übernommen als er noch ein kleiner Junge war.
Persönliche Auseinandersetzung
Der Roman, der anfänglich konstruiert, spröde und fast ein bisschen hölzern wirkt und sich zunächst nur auf die Begegnung der beiden konzentriert, entwickelt sich zu einer intensiven, sehr persönlichen Auseinandersetzung über den Sinn des Lebens, über Alter, Gebrechlichkeit und nahen Tod. Schonungslos realistisch und zugleich einfühlsam beschreibt die Autorin Einsamkeit und selbstgewählte Isolation, notwendige Abgrenzung, aber auch wachsendes gegenseitiges Verständnis zweier Frauen, die in gänzlich unterschiedlichen Lebenszusammenhängen aufgewachsen sind und lernen, sich in ihren Eigenheiten zu respektieren und zu mögen. (Christiane Schwalbe)
Erika Pluhar *1939 in Wien, 1959 bis 1999 Schauspielerin am Burgtheater in Wien, Autorin zahlreicher Bücher
Erika Pluhar "Gegenüber"
Roman, Residenz Verlag 2016, 344 Seiten, 24 Euro
eBook 16,99