Stefan Kiesbye
Hemmersmoor
Schon sein Roman "Nebenan ein Mädchen" brachte Stefan Kiesbye auf die Krimibestenliste 2009. Kiesbye, 1966 in Eckernförde an der Ostsee geboren, lebt seit 1996 in den USA. Bereits 2004 hatte er dort diesen ersten Roman veröffentlicht, der die gewaltgeladene Atmosphäre der späten Nachkriegsjahre in der niedersächsischen Provinz aufgreift. Sein neuer Roman führt in ein Dorf am Rande des Teufelsmoors, Hemmersmoor.
Jugend im Dorf
Dem Ersten der Tod, dem zweiten die Not, dem dritten das Brot ?so beschreibt ein Sprichwort die Kolonisierung des Teufelsmoors. Wenn Martin sich an seine Jugend im Dorf Hemmersmoor erinnert, erscheint ihm auch das Brot als grau und sauer, und beim jährlichen Kochwettbewerb zum Erntedankfest hatten die Feiernden plötzlich schwarze Zungen. Und das war nicht das einzige unheimliche Ereignis in diesem Dorf.
"Die Zeit spielt keine Rolle. Ich war jung und wusste nichts von unserer Zeit. Es hatte in unserem Dorf nie eine andere Zeit gegeben. In Hemmersmoor ging sie nicht mutig voran. Sie hinkte ein wenig, verlief sich oft und kam immer wieder an Fricks Tresen zum Stehen. In einer der Geschichten von Verrat, Missgunst und Hexerei."
Blick in die Vergangenheit
Zwei Männer und zwei Frauen, Martin und Christian, Linde und Anke erinnern sich, an Feste und Eifersüchteleien, an ihre Lieblingsorte - und an Todesfälle. Als Kinder waren sie befreundet, doch die Freundschaften reichten nicht weit und waren früh schon vergiftet, und je tiefer man sich in das Leben im Dorf Hemmersmoor hineinliest, desto mehr zieht einen der Grundton von Heimlichkeit und Verschweigen in den Bann. Das Dorf hat einen dunklen Zwilling, ein anderes Dorf aus Baracken, das keiner mehr kennen will. Hier sind Menschen gequält und ermordet worden, und die Kinder wissen zwar wenig, spüren aber die Macht des Schweigens:
"Niemand in Hemmersmoor schien zu wissen, wer die Leute in dem Lager damals gewesen waren. Niemand erinnerte sich an die Menschen, die dort gelebt und gearbeitet und in den Baracken geschlafen hatten. Und die dort gestorben waren. Diese Menschen hatte es nie gegeben."
Neid und Gewalt
In kurzen, intensiven Bildern wird das Leben im Dorf lebendig, und vor allem die Beziehungen zwischen den Menschen erscheinen als Geflecht mit großem unterirdischem Anteil. Hier liegen die Wurzeln für Neid und Gewalttätigkeit, und der Gutshof spielt dabei eine besondere Rolle. Der Erbe des alten Gutsbesitzers versteht es, seine Untergebenen - Köche, Dienstmädchen, den Chauffeur und die Landarbeiter - herumzukommandieren, und als der Vater von Linde entlassen wird, lässt er seine Wut an seiner Tochter aus, deren Gesicht von Narben entstellt bleibt. Auch die Mütter sorgen auf ihre Weise dafür, dass sich zwischen Männern und Frauen nichts ändert:
"Sie war sehr dünn, hatte einen leichten Rundrücken, ihr Gesicht war verhärmt. Doch unser Haar hatte denselben dunkelbraunen Glanz. 'Vergeude deine Zeit nicht mit hübschen Gesichtern', flüsterte sie eindringlich. 'Sei klug. Nur ein Mann, zu dem du aufschauen kannst, lohnt die Mühe. Lass dich nicht von ihrem Aussehen blenden, Schönheit verfliegt.'"
Dichte Atmosphäre
Stefan Kiesbyes Roman ist kein Kriminalroman im engeren Sinn, sondern erzählt von kleinen Gemeinheiten und großen Verbrechen im niedersächsischen Dorf, und durch die Erzählungen seiner Zeugen entsteht eine sehr dichte und mit großer Spannung aufgeladene Atmosphäre. Nicht alle Geschichten werden zu Ende erzählt, manche nur angedeutet, und der lange Schatten von Aberglauben und Furcht erscheint als sehr mächtig, auch für den Jungen, der am Ende seines Lebens ins Dorf Hemmersmoor zurückgekehrt ist.
"Die Toten sind unruhige Geister, mischen sich in alles ein. Ich habe einen leichten Schlaf, und sie spüren es und dringen in meine Träume ein. Das ist ganz leicht für sie, und ich kann nach ihnen schlagen, wie nach Flöhen oder sonstigem Ungeziefer, aber ich werde sie nicht los?Ich verabscheue sie, aber sollten sie mir dereinst den Rücken kehren, was wird mir dann bleiben?"
Deutsche Geschichte
Wen Michael Hanekes Film "Das weiße Band" fasziniert hat oder auch Andrea Maria Schenkels Bestseller "Tannöd" - ebenfalls Geschichten über die dunkle Seite deutscher Dorfidyllen - wird auch Stefan Kiesbyes Gespür für Gewalt und Geheimnisse in der niedersächsischen Provinz schätzen. Kein Regionalkrimi, sondern eine subtile und sprachlich glänzende Tiefenbohrung deutscher Geschichte.
(Lore Kleinert)
Stefan Kiesbye *1966 Eckernförde /Ostsee, Schriftsteller, lebt in Los Angeles/USA
Stefan Kiesbye "Hemmersmoor"
Tropen Verlag 2011, 208 Seiten, 17,95 Euro