Isabel Allende
Ein unvergänglicher Sommer
Brooklyn, New York - Schneesturm, vereiste Straßen, die Menschen werden aufgefordert, zuhause zu bleiben. Robert setzt sich trotzdem ins Auto, um seine Katze zum Tierarzt zu bringen. Es schneit, die Sicht ist schlecht.
Perfekte Kontrolle
Robert ist 60, Hausbesitzer, trockener Alkoholiker, Vegetarier, Wissenschaftler und Eigenbrötler, lebt allein, leidet unter Panikattacken und Sodbrennen.
"Seid Jahren besaß er über alles in seinem Leben die perfekte Kontrolle, keine Überraschungen, keine Aufregung ..."
Das ist vorbei, als er ein Auto übersieht und hinten drauf fährt. Er gibt der jungen Frau, die sichtlich nervös auf den Kofferraumdeckel schlägt, der sich nicht mehr schließen lässt, seine Karte, sie braust davon. Wenig später steht sie vor seiner Tür, winzig von Statur, wortlos, verstört. Robert ruft Lucía zu Hilfe, seine Mieterin und Kollegin an der Uni. Sie lebt im Souterrain mit einem Chihuahua, der ihr zugelaufen ist.
Traumatische Erfahrungen
Die verhuschte, stotternde junge Frau, nicht mal zwanzig Jahre alt, bringt kaum ein Wort heraus. Sie arbeitet bei einer Familie ohne Aufenthaltsgenehmigung, betreut deren behinderten Sohn. Ihrem zwielichtigen Boss gehört das Auto, in dessen Kofferraum sie eine Leiche entdeckt hat. Roberts Haschkekse lösen ihr buchstäblich die Zunge und sie erzählt von traumatischen Erlebnissen. Sie ist aus Guatemala geflohen, weil ihre Familie ins Fadenkreuz der dortigen Gangs geraten ist, der Maras, die ihre Brüder ermordet und sie selbst mehrfach vergewaltigt haben. Sie spricht Spanglish, "diese Mischung aus Spanisch und Englisch, die für viele Hispanics in den USA zur Alltagssprache geworden ist."
Flucht und Migration
Ein typisches Allende-Tableau: politische Probleme Lateinamerikas, soziales Elend und Unterdrückung der Menschen, verknüpft die Autorin mit den Schicksalen ihrer drei Protagonisten, die eins gemeinsam haben: Verfolgung, Flucht und Migration. Lucía, 62, eine starke, mutige und kluge Frau - auch dies ist typisch für Allende - musste aus Chile fliehen, nachdem ihr Bruder, Anhänger des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, nach Pinochets Militärputsch 1973 verschwunden ist. Über ihren Vater, einen aus Kroatien eingewanderten Bigamisten, wurde zuhause nicht gesprochen. Und Roberts Vater musste sich vor den Nazis in Sicherheit bringen, floh über Paris nach Lissabon:
"Er sollte sich ein Leben lang an die Menschen erinnern, die ihm unter großen Gefahren bei seiner Odyssee halfen. Richard wuchs mit den Geschichten seines Vaters aus dem Krieg auf, verbunden mit der klaren Botschaft, dass es eine moralische Pflicht sei, den Verfolgten zu helfen."
Richard hat lange in Brasilien gelebt, war dort verheiratet und lebt seit dem von ihm verschuldeten tödlichen Unfall seiner Tochter in New York.
Mitten im Winter
Allende bündelt auch in diesem Roman eine Unmenge von Stoff, erzählt vom prallen Leben: Dramatische Schicksalsschläge, politische Verfolgung, leidenschaftlicher Liebe - das gilt für alle drei Protagonisten, die es in einer abenteuerlichen Aktion schaffen, die ominöse Leiche zu identifizieren, verschwinden zu lassen und den Arbeitgeber von Evelyn als Menschenhändler zu entlarven.
"Typen wie er machten sich die Finger nicht schmutzig. Sie kannten weder die Gesichter noch die Geschichten der Menschen, die als Sklavenarbeiter in der Landwirtschaft, in Fabriken, Industriebetrieben und Bordellen landeten. Für ihn waren sie nur Zahlen, namenlose Ware, die verschoben werden musste, weniger wert als Vieh. ... Opfer des Menschenhandels ... lebten unsichtbar, mundtot gemacht, im Dunkel einer gesetzlosen Welt."
Späte Liebe
Das ist eine gekonnte Mischung aus politischen Beobachtungen und menschlichen Schicksalen, sicher nicht in die Tiefe gehend, aber wie immer packend und unterhaltsam erzählt. Zum Schluss endet Robert nicht, wie von Lucía prophezeit, als "ängstlicher, hypochondrischer Zausel", Evelyn kehrt zu ihrem über alles geliebten Schützling zurück, die temperamentvolle Lucía gewinnt Roberts Liebe, und angesichts des ununterbrochenen Schneetreibens in diesem Roman erklärt sich endlich auch der Titel: "Mitten im Winter erfuhr ich endlich, dass in mir ein unvergänglicher Sommer ist." - Roberts glückselige Erkenntnis im Alter ist ein Zitat von Albert Camus.
(Christiane Schwalbe)
Isabel Allende, *1942 in Lima, Peru, Journalistin und erfolgreiche Schriftstellerin, lebt in Kalifornien
Isabel Allende "Ein unvergänglicher Sommer"
aus dem Spanischen übersetzt von Svenja Becker
Roman, Suhrkamp 2018, 350 Seiten, 24 Euro
eBook 20,99 Euro, AudioCD 13,79 Euro
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