Christina von Braun
Stille Post - Eine andere Familiengeschichte
"Wir alle erben von den vorangegangenen Generationen psychische Vermächtnisse: Enthalten sie Gutes, so fällt es leicht, das Erbe anzutreten. Oft enthalten sie aber auch Verwundungen, Trauer, Verdrängtes. Dann bleibt der nächsten Generation gar nichts anderes übrig, als sich damit auseinanderzusetzen – und manchmal, wie hier, den Verstorbenen eine Stimme zu geben."
Spuren der Familie
Christina von Braun hat sich diesem Erbe in eindrucksvoller Weise gestellt: 2007 wurde ihre 'andere Familiengeschichte‘ für den Leipziger Buchpreis nominiert, und viele Menschen fanden sich darin wieder und fühlten sich angeregt, mehr über die eigene Familie zu erfahren. Im Nachwort zur Neuauflage ihres Buchs geht Christina von Braun darauf ein, wie rasch – in nur drei Generationen - sich die Umwälzungen der Geschlechterordnung vollzogen und wie nötig es war und ist, das Schweigen über die sexuelle Basis vom Macht zu brechen und die Konventionen offizieller Geschichtsschreibung infrage zu stellen. Die 'Stille Post' ist ein Wissen, das sich auf ungewöhnlichen Wegen mitteilt, bezogen auf "Auslassungen, Missverständnisse, Fehlleistungen, Assoziationen und Träume", und die Filmemacherin und Professorin für Genderforschung ist diesen Spuren in der eigenen Familie nachgegangen, mit großer Sorgfalt und erheblichem Gespür:
" Archiv besteht aus diesen 'unsagbaren' Botschaften, die fast nur in Familien weitergegeben werden…Sie haben etwas mit den Wunden zu tun, die das Leben den Einzelnen zugefügt hat."
Tod im Gefängnis
In Tagebüchern und Briefen erkundet sie die unerzählten Geschichten ihrer Vorfahrinnen: Großmutter Hildegard Margis, Frauenrechtlerin und nach dem ersten Weltkrieg Unternehmerin, wird 1944 von der Gestapo wegen ihrer Kontakte zum Widerstand verhaftet und stirbt im Polizeigefängnis. Die Autorin sucht nach Spuren der Großmutter in dem, was deren Tochter, ihre Mutter Hilde, auslässt und zeitlebens abgewehrt hat, während des Krieges, als sie als junge Diplomatenfrau und Mutter im Vatikan lebte, und später, als sie nach einer tragischen Affäre in der Familie aufging, weiter schwieg und litt.
"Ich habe mich lange mit dieser seltsamen 'Sprache' des Frauenkörpers beschäftigt, der nur über seine Symptome zu Wort kommt … Aber es genügte mir nicht, diese Sprache zu verstehen. Um Hildes Erzählung entziffern zu können, musste ich auch wissen, welche 'Geschichte' sich ihres Körpers bemächtigt hatte und auf welche Weise sie ihm eingeschrieben wurde.“
Widersprüchliche Botschaften
Die Männer der Familie von Braun schrieben an der offiziellen Geschichte mit: ihr Onkel Wernher als Raketenpionier, der Vater Sigismund als Diplomat, der Großvater Magnus von Braun war vor 1930 Minister und Reichspressechef. Mit der Erbschaft, die Frauen wie Hildegard von Margis hinterließen, hatten die Nazis gründlich aufgeräumt, und die Autorin zeichnet nach, wie lange es dauerte, bis Frauen an die emanzipatorischen Erfolge der Zwanziger Jahre wieder anschließen konnten. In den Leerstellen, für die es zunächst keine Sprache gibt, stößt Christina von Braun auf die widersprüchlichen Botschaften der 'Stillen Post': Aus ihnen lassen sich die weiblichen Erinnerungsketten rekonstruieren. Im Ergebnis sind sie umso vieles reicher als eine Geschichtsschreibung, die das subjektive Erleben, die Gefühlswelt der Menschen ausklammert. Im Tagebuch der anderen Großmutter der Autorin, Emmy von Braun, wird das besonders deutlich: Während man viel über die Aussiedlung aus Schlesien erfährt, wo die Großeltern seit 1930 lebten, bleibt sie doch als Person blass und schreibt, "als spreche sie nicht im eigenen Namen". Vieles von Hildegard von Margis‘ Leben lässt sich hingegen aus dem, was ihre Tochter abwehrte, als 'lebendiges Gedächtnis' herausdestillieren.
"Die Verdrängung ist die sicherste Form, eine Erinnerung zu bewahren, hat mal jemand gesagt. Das galt, glaube ich, auch für Deine Tochter. Durch ihr Schweigen hat sie seltsamerweise dafür gesorgt, dass Du nicht vergessen wirst."
Weibliche Körpersprache
Christina von Braun findet für ihre respektvolle Spurensuche eine einfühlsame Sprache, mit der sie sich auch den Abgründen der 'Erbschaften' nähert. In der Gewissheit, dass die Geschichte der weiblichen 'Körpersprache' entschlüsselt und erzählt werden muss, bietet ihr Buch auch 13 Jahre nach seinem ersten Erscheinen großen Reichtum: "Es ist eine Sprache, die zu einem Teil unseres Denkens, Fühlens, der Leidenschaften und damit auch unserer Geschichten wird. Aber es ist auch eine Sprache, die gehört werden will und verstanden wird" – wenn man bereit ist, mit dem Alphabet der 'Stillen Post' umzugehen und dabei die eigene Person einzubeziehen.
(Lore Kleinert)
Christina von Braun, *1944 in Rom, Autorin, Filmemacherin und Kulturwissenschaftlerin, lebt in Berlin.
Christina von Braun "Stille Post"
Eine andere Familiengeschichte
Propyläen Verlag 2020, 427 Seiten, 26 Euro
eBook 24,99 Euro