Ulrike Herrmann
Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen
Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind
Es war einmal … so beginnen Märchen. Ulrike Hermann nimmt ein ganz besonderes Märchen unter die Lupe: Das deutsche Wirtschaftswunder. Und belegt mit zahlreichen Fakten und Kommentaren, dass dieses Wirtschaftswunder ganz und gar nicht und vor allem nicht allein auf dem Boden deutschen Fleißes gewachsen ist und binnen weniger Jahre aus einem zerstörten Land eine blühende und soziale Marktwirtschaft gemacht hat. Ihr Buch rückt ein falsches Bild zurecht und macht Korrekturen, die bis in die Gegenwart reichen.
Die Währungsreform
"Die D-Mark hat ein Gesicht: Ludwig Erhard. Der spätere Wirtschaftsminister und Bundeskanzler gilt als Schöpfer des neuen Geldes. Ganz allein soll er die Währungsreform gestemmt und die "soziale Marktwirtschaft" erfunden haben ... Die Legende wird zwar bis heute gern verbreitet, ist aber trotzdem falsch."
Während deutsche Experten und Ludwig Erhard noch über eine Währungsreform berieten, hatten die Amerikaner Ende 1947 bereits neue Geldscheine im Wert von 5,7 Milliarden Mark gedruckt, über Bremerhaven verschifft und in Frankfurt eingelagert. Und nicht nur das: Sie verfügten einen radikalen Schnitt: Mit der Währungsreform von 1948 fiel der Wert von 100 Reichsmark auf 6,50 D-Mark – eine Entscheidung, an der Erhard keinen Anteil hatte. Und "Vater" des Wirtschaftswunders war er schon gar nicht
USA als treibende Kraft
Auf Basis dieser neuen stabilen Währung kam die Wirtschaft wieder in Schwung, Industriebetriebe begannen aktiv mit Rohstoffen und Waren zu handeln, Bauern verkauften ihre Lebensmittel, statt sie auf dem Schwarzmarkt zu tauschen, den Menschen ging es zunehmend besser – das "Wirtschaftswunder" war geboren. Aber es weder ein nur deutsches Verdienst noch das von Erhard: Fast alle Länder Europas hatten zwischen 1950 und 1970 ebenso hohe Wachstumsraten. Die USA waren die treibende Kraft, sie unterstützten Europa mit dem Marshallplan und zwangen die Länder gleichzeitig zu einer umfangreichen Kooperation:
"Nur weil die USA Dollars nach Europa pumpten, konnte die Bundesrepublik ihre gigantischen Exportüberschüsse anhäufen. Andernfalls hätten die Defizitländer gar nicht die Devisen gehabt, um ihre Schulden in Westdeutschland auszugleichen."
Der weitere europäische Aufschwung war kein Werk Deutschlands, sondern das der Nachbarn: Frankreich initiierte die Montanunion für die Kohle- und Stahlindustrie, die Beneluxländer gaben den Impuls zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG.
Unternehmer als Gewinner
"Soziale Marktwirtschaft" – auch dieser Begriff war keine Erfindung von Erhard, geprägt hat ihn der Ökonom Alfred Müller-Armack. Aber sozial war sie nicht. Zwar stiegen die Löhne kontinuierlich, aber begünstigt wurden nur die Reichen, also waren letztlich die Unternehmer die Gewinner. Und schon 1955 wurde denn auch beklagt, dass "die Vermögensverteilung in der Bundesrepublik nur als Skandal bezeichnet werden" kann. Das gilt unverändert bis heute.
Die Autorin prangert - detailliert recherchiert und belegt – nicht nur diese Fehlentwicklung im Nachkriegsdeutschland an: Sie kritisiert die "ungebrochene Macht der Großkonzerne", die Zinspolitik der Bundesbank, der angeblichen "Hüterin der D-Mark", die Steuerpolitik, die höhere Einkommen stets verschont hat, Schröders Agenda 2010: "Die Armen mussten also dafür zahlen, dass die Reichen entlastet wurden", worauf Schröder auch noch stolz war, als er 2005 auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos verkündete: "Wir haben einen der besten Niedriglohnsektor aufgebaut, den es in Europa gibt."
Ökologische Wende
Ulrike Herrmann fordert eine nachhaltige und aktive Wirtschaftspolitik, die Ökologie und Umverteilung zum Schwerpunkt macht. Aber dafür fehlt in der bundesdeutschen Parteienlandschaft bislang der Wille:
"In der bundesdeutschen Geschichte wurde nur zweimal bewusst Wirtschaftspolitik betrieben, und in beiden Fällen war sie richtig: Adenauer hörte nicht auf Erhard, als er sich für Europa entschied. Und Kohl ignorierte die Bundesbank, als er die deutsche Währungsunion forcierte. Diese Beispiele sollten Mut machen, die ökologische Wende ernsthaft anzugehen. Politik lohnt sich."
Die Lektüre dieses Buches auch, denn es entlarvt verständlich und nachvollziehbar die Legende vom vorbildhaften deutschen Wirtschaftswunder.
(Peter Ehrenfried)
Ulrike Herrmann *1964 in Hamburg, Autorin von wirtschaftskritischen Büchern, seit 2000 Wirtschaftskorrespondentin der Tageszeitung taz, lebt in Berlin
Ulrike Herrmann "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen"
Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind
Westend Verlag 2019, 320 Seiten, 24 Euro
eBook 17,99 Euro, AudioCD 20,78 Euro
Weiterer Buchtipp zu Ulrike Herrmann:
Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung
- Die Krise der heutigen Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können