Natascha Wodin
Alter, fremdes Land
Lea ist dreiundsechzig, eine Schriftstellerin in Berlin, die allein lebt, und an ihrer Lebendigkeit zweifelt sie nicht – doch viele winzige Begebenheiten, wie z.B. zum ersten Mal "Muttchen" genannt zu werden oder der Anblick des plötzlich fremden, alten Gesichts im Spiegel zeigen ihr, dass der Zeitsprung sie in eine andere Dimension geführt hat, "dass Körper und Seele anfingen, getrennte Wege zu gehen, dass äußere und innere Wirklichkeit nicht mehr zusammenpassten."
Subtile Komik
Leas Gedanken kreisen um Tod und Endlichkeit, und sie bedrängen sie bis zur völligen Erstarrung – doch dann beginnt sie der "zunehmenden Präsenz des Körpers", als die ihr das Altern erscheint, zu begegnen, indem sie Körper und Geist in Bewegung setzt – gehenderweise zunächst, und schließlich, fast per Zufall, indem sie in einem Erotikchat landet. Wie Natascha Wodin das erzählt, nicht in der Ichperspektive, aber immer ganz nah an Leas Gedankenstrom, ist klug und zugleich voll subtiler Komik.
Hochbetrieb im Chatroom
Lea ist fasziniert, lässt ihre Erinnerungen Revue passieren und blickt zurück in die Zeit, als Reisen noch abenteuerlich und neu war und die Welt voller Geheimnisse und Verheißungen. Sie stellt fest, dass in der Welt der Chatrooms Hochbetrieb herrscht,
"eine Art Lagerfeuer, das immer brannte und an das sie in jedem Augenblick zurückkehren konnte. Von nun an brauchte sie nur auf einen Knopf zu drücken und war nicht mehr allein."
Spiel mit dem Begehren
Sie macht sich auf die Suche nach anderen "schriftkundigen Sonderlingen", und in einer Welt, in der alles Leben nur aus Worten erschaffen werden muss, beginnt sie ein Spiel mit dem Begehren, der Sexualität hinter den Masken und zieht die Leser in die Absonderlichkeiten der virtuellen Welt, der größten Projektionsfläche der Welt hinein:
"Sie wanderte aus in einen anderen, ihr unbekannten Kontinent, sie wanderte aus aus sich selbst, aus ihren Prägungen, ihrer Erziehung, ihren eigenen Vorstellungen von sich selbst .Ein schwindelerregender Leichtsinn hatte sie erfasst, eine unstillbare Gier nach flüchtigen Erfüllungen, nach der Gier der Männer, nach ihren Antworten auf ihren Körper."
Maske der Jugend
Da sie aber eine nachdenkliche Person ist, weiß sie um die Fallstricke ihrer Suche und Sucht und gibt die Maske der jungen, schönen Frau auf, nur um festzustellen, dass gerade ihr Alter kein Hindernis für jüngere Männer ist. Die Begegnungen, die sich aus ihren Chatkontakten ergeben, beschreibt Natascha Wodin mit Wohlwollen und großer Komik: Den empfindsamen katholischen Pfarrer, der sich als selbstverliebter Narziss entpuppt, den jungen Pianisten, der unerwartet gern mit ihr schläft.
Virtuelle Abenteuer
Die Sehnsucht nach einem Mann ihres Alters und nach der Liebe treibt Lea im virtuellen Paralleluniversum weiter, in die Arme eines ägyptischen Psychopathen, dem sie knapp entkommt, und schließlich zum Mann, mit dem alle Träume realer Zweisamkeit möglich scheinen – der ihr dann aber doch weitere Abenteuer im Cyberspace vorzieht. Am Ende begreift sie, nun 65, dass sie im Internet wie im künstlichen Exil gelebt hat und dass die Worte sie nicht retten werden,
"die machtlosen Worte, die immer eine Niederlage waren, im besten Fall eine vorletzte Wahrheit, zumeist nicht einmal die halbe."
Ein fremdes Land
Doch die Suche lehrte sie Dankbarkeit und die Erfahrung, dass die Seele ihren eigenen Gesetzen jenseits der Zeit folgt. Natascha Wodin, die für ihre Bücher viele Auszeichnungen bekam, hat durch das fremde Land Alter einen ebenso spannenden wie diskreten Weg gebahnt.
(Lore Kleinert)
Natascha Wodin *1945 in Fürth, deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin, lebt in Berlin
Natascha Wodin "Alter, fremdes Land"
Roman, Verlag Jung und Jung 2014, 216 Seiten, 19,90 Euro
eBook 12,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Natascha Wodin
"Sie kam aus Mariupol"