Claire Keegan
Reichlich spät
„…wie Dinge enden: Wenn sie nicht schlecht geendet haben, haben sie nicht geendet.“ Eine Zeile, die der Dubliner Cathal, ein Mann mittleren Alters, irgendwo aufgeschnappt hatte.
Letzte Gedanken
Als sie ihm in den Sinn kommt, ist der Tag, an dem wir ihn bis in die Nacht begleiten, schon fast vorüber. Ein Freitag, an dem er im Büro seine Heimfahrt verzögert, die Ankunft im ländlichen Vorort Arklow, dann ein langer Abend mit Fernseher zur Torte und einer Flasche Champagner. Seine Gedanken kreisen um die Beziehung mit Sabine, und man fragt sich, ist er ein Mann, der verlassen wurde und leidet? Doch Claire Keegan legt Spuren, die etwas anderes enthüllen, und in kleinen Schlüsselsätzen, subtilen Erinnerungsfetzen entsteht ein Mosaik, das erst ganz am Ende, in Cathals letzten Gedanken in der Nacht zum Bild wird. Doch der Weg dahin ersetzt in dieser kurzen, nur 55 Seiten umfassenden Erzählung der vielfach ausgezeichneten irischen Schriftstellerin einen ganzen Roman, von Hans-Christian Oeser glänzend übersetzt: In präzise erfassten Splittern genauer Beobachtung entsteht das Bild eines Mannes, der kleinlich und rechenhaft ist, seiner Freundin nichts zu geben hatte, aus seiner frauenfeindlichen Haut nicht herauskann. Das ist zuweilen komisch, dann auf tragische Weise festgefahren, bis man schließlich als Leserin ebenso an ihm verzweifelt wie die lebensfrohe Sabine, die immerhin bei ihm einzog.
„Das war ein Teil des Problems: dass sie nicht hören und gut die Hälfte der Dinge auf ihre Weise tun wollte“ – und genau das kann er nicht ertragen. Als sie bei ihm einzieht und seine Ordnung stört, ist das Ende schon fast erreicht, trotz Hochzeitswunsch, Lebensplanung und frisch angeschaffter Katze. Er schaute sie an, und wieder sah er in ihrem Blick etwas Hässliches an ihm selbst zurückgespiegelt. ‚Verstehst du denn überhaupt nicht, wovon ich rede?‘ Sie schien aufrichtig zu fragen, nicht auf der Suche nach Streit, sondern nach einer Antwort.“
Kein Wort zuviel
Doch sie bekommt auf ihre Fragen keine Antwort. Weshalb er sie nicht geben kann, seziert die Autorin, indem sie aus den Bruchstücken seiner Erinnerung die Unfähigkeit zu lieben und etwas zu geben entziffert – unangestrengt, bitter, ohne ein Wort zu viel. In Abwehr und Selbstmitleid erstarrt, fragt sich Cathal schon auf der Fahrt in sein leeres Zuhause, „ob man jemals bereit war für etwas Schwieriges oder Schmerzliches“. Zugleich aber wird in der Erinnerungsspur an seine duldsame Mutter, die von Ehemann und Söhnen ausgelacht wurde, ein Konzept von verarmter Männlichkeit sichtbar, das weder Schmerz noch Mitgefühl zulassen kann. Eine kurze Geschichte mit langer Nachwirklung!
(Lore Kleinert)
Claire Keegan, *1968 in Irland, mehrfach ausgezeichnete Autorin von Erzählungen, Kurzgeschichten und Romanen
Claire Keegan „Reichlich spät“
aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Erzählungen, Steidl Verlag 2024, 64 Seiten, 15 Euro
eBook 7,99 Euro