Gülbahar Kültür
Der Wortschatzräuber
Lebendig ist eine Sprache, wenn sie nicht nur benutzt, sondern auch weiterentwickelt wird, wenn sie offen ist für kulturelle Einflüsse, die sich über Jahrhunderte im Wortschatz spiegeln und ihn bereichern, wenn sie Brücken baut zwischen Menschen.
Überfremdung der Sprache
So war das auch im Wortland. Bis der König die Fremdwörter verbot, um der Überfremdung Einhalt zu gebieten, und zu allem Überfluss auch noch ein Wortschatzräuber beginnt, Wörter zu klauen – die besonders schönen und poetischen sucht er sich aus und macht damit den Dichtern und Denkern des Landes das Leben schwer, die nun nicht mehr wissen, was sie schreiben sollen.
Kulturelle Vielfalt
Die Sprache verarmt und mit ihr die kulturelle Vielfalt, Verzweiflung breitet sich aus, bis sich die Dichter zusammenschließen, in gemeinsamer Solidarität einander helfen und ergänzen und schließlich neue Fremdwörter fordern, um wieder Stoff für ihre Dichtung zu bekommen. Was der König nur widerwillig gestattet, denn er setzt mehr auf die Verhaftung des Wortschatzräubers und Preisgabe der gestohlenen Wörter. Aber der Räuber schweigt und selbst ein Gedankenleser kann nicht weiterhelfen.
Gegen Fremdenfeindlichkeit
Die Überfremdung der Sprache wird bei Gülbahar Kültür zur Metapher für eine Überfremdung der Gesellschaft, die - durch Befehle von oben - verarmt und erstarrt. Damit berührt die geborene Türkin, die mit 14 Jahren nach Bremen kam, hier als Journalistin und Autorin lebt und arbeitet, ein Thema, das angesichts der Flüchtlingskrise gerade wieder hochaktuell geworden ist. Entstanden ist die Parabel bereits im Jahr 2000, als wegen rassistischer Übergriffe das Thema Fremdenfeindlichkeit besonders aktuell war.
Miteinander reden
Aber ihr Gleichnis will noch mehr: Wenn wir nicht miteinander reden können, können wir uns auch nicht verstehen. Sprache ist Kommunikation und Verständigung – zwischen Menschen und Kulturen, zwischen Einheimischen und Zuwanderern. Mit der Sprache eignet man sich die Kultur eines Landes an, stellt Verbindungen zu eigenen her und kann sie anderen Menschen erklären.
Kulturelle Identität
Gülbahar Kültür, die Zugewanderte, beherrscht längst beide Sprachen, sie studierte Germanistik und Kulturwissenschaften und schreibt Romane und Lyrik auf türkisch und deutsch. Sie kennt aus eigener Erfahrung aber auch die Sprach-losigkeit – in ihrem Fall die eines 14jährigen Mädchens, das aus Istanbul nach Deutschland kam, ohne ein Wort deutsch zu können.
Kulturelle Identität beginnt mit der Sprache, aber damit endet sie nicht, sondern befindet sich im fortwährenden Prozess der Veränderung und Erweiterung. Auch das will uns "Der Wortschatzräuber" sagen. "Vielleicht", sagt Gülbahar Kültür im Interview, "spielt es ja irgendwann keine Rolle mehr, wo Menschen oder ihre Vorfahren ursprünglich herkommen, das wäre doch mal ein Fortschritt."
(Christiane Schwalbe)
Gülbahar Kültür "Der Wortschatzräuber"
Mit Illustrationen von Deniz Pasaoglu
Elif Verlag, 68 Seiten, 11,95 Euro