Sibylle Berg
Wunderbare Jahre
Als wir noch die Welt bereisten
Wann war das eigentlich, als wir noch unbeschwert und sorglos die Welt bereisten? Als wir noch keine Angst vor Terroranschlägen hatten, Landschaft wirklich noch Landschaft war und fremde Kulturen uns magisch anzogen?
Reizendes Reisen
War es vor zehn oder vor zwanzig Jahren, hat sich nur unser Blick verändert oder tatsächlich die Wirklichkeit? Sibylle Berg gibt auf diese Fragen Antworten – in neunzehn Texten, die so unterschiedlich sind wie das jeweilige Land, das sie bereist hat und das sicher auch der eine oder die andere Leser*in kennt:
"Wie seltsam schnell und doch verzögert in der Wahrnehmung sich die Welt verändert hat. In den Synapsen stecken immer noch Bilder von früher. Von reizenden Reisen. Da einem, außer einer Darmgrippe, nichts passieren konnte. Entspannt fuhr man nach Griechenland, durchquerte die Wüste Gobi, hockte im Jemen und beobachtete Menschen beim Leben und reiste nach Paris."
Hinter Barrieren
Es gibt auch Erinnerungen, die uns wie ein Spiegel der heutigen Wirklichkeit vorkommen: 1999, in Jugoslawien herrscht Krieg, die Autorin reist nach Mazedonien - und hier? Hier gibt es ein Lager,
"das so groß ist wie zwei Fußballfelder. Es ist anders als im Fernsehen, das Lager. Man riecht es, man hört es, und schaut ihnen in die Augen, den 40 000 Menschen hinter Barrieren" … und Soldaten, die auf sie einprügeln und zuschauen, "wie Menschen fast zerdrückt werden" – weil sie raus wollen, in ein besseres Leben.
Alltag im Elend
Überall auf der Welt gibt es menschliches Elend, nur erreicht uns das in Europa kaum. Allenfalls, wenn die Nachrichten mal wieder die Vergewaltigungen indischer Frauen in den Mittelpunkt rücken oder den Einsturz einer Textilfabrik in Bangladesch. Möglicherweise starb unter den Trümmern eine wie Parul, die mit dreizehn verheiratet wird und ihrem zehn Jahre älteren Mann durch die Slums und den Dreck bitterster Armut folgen muss, in Müllhaufen nach Nahrung sucht, geschlagen und gedemütigt wird.
"Parul war dumm, alle um sie waren dumm. Nicht dass sie ein kleines Gehirn gehabt hätten, aber es war nie benutzt worden, das Gehirn. Zum Lernen nicht, zum Denken nicht, denn dafür waren die weisen Männer da."
"Mein Leben als Hund" ist eine harte Geschichte, eine, die unter die Haut geht.
Lesen im Palmblatt
Andere Texte nehmen den modernen Wohlstandstourismus aufs Korn - scharfzüngig, kritisch, klug. Kreuzfahrten zum Beispiel, heutzutage die beliebteste Art, Urlaub zu machen, um möglichst viel in möglichst kurzer Zeit abzuhaken – fünfeinhalb Millionen Menschen tun es jährlich, nur in Europa; oder Safaris in Afrika, die "krass an die Nerven" gehen; Palmblattlesen in Indien ist da eher esoterisch, und das erste Vegetarier-Dorf der Welt in Israel war mal Idylle - heute ist es nur noch ein Touristenort. Schlingensiefs "Parsifal" bringt Wagnerianer zum Buhen und der Spaß einer Reise im Orientexpress ist teuer -
"Aber über Preise redet man nicht in unseren Kreisen, über Geld reden Proleten und Neureiche, keineswegs die Zielgruppe der hier anwesenden Nostalgiker."
Nah dran
Sibylle Berg beobachtet präzise, ihre glänzend erzählten Texte sind spöttisch, zynisch, bitterböse – und nah dran an der Realität:
"Italien ist immer noch reizend; wenn man die 40 Prozent jugendlicher Arbeitsloser wegdenkt, kann man noch ans Mittelmeer, Sie wissen schon. Die Boat-People. Es muss ja auch keiner mehr verreisen. Es gibt auf 3Sat und Arte täglich diese wunderschönen Sendungen, in der die Welt in Ordnung ist."
Das Postscriptum nach jedem Text über aktuelle Schreckensmeldungen der jüngsten Zeit - von Terroranschlägen, Bombendrohungen und Schlammlawinen bis zu Drogenstatistiken und Warnungen des Auswärtigen Amtes - motiviert auch nicht zum Reisen. Versöhnlich sind höchstens die ironisch-realistischen Illustrationen von Isabel Kreitz, die etwas Tröstliches haben.
Neue Ängste
Aus Fernweh wird Heimweh - bleiben wir also besser zuhause, träumen von früher und schalten den Fernseher ein? Nützt auch nichts, denn:
"Wir sind betroffen. Wir alle, die nicht morden, sind betroffen, denn unser kurzes Leben ist bedroht von einer neuen realistischen Angst. Angst um unsere Familie. Unsere Liebsten. Angst, dass die Welt wohl doch nicht der freundliche Ort ist, den wir uns früher erträumt haben".
(Christiane Schwalbe)
Sibylle Berg, *1962 in Weimar, lebt als Dramatikerin und Autorin in Zürich und Tel Aviv
Sibylle Berg "Wunderbare Jahre"
Als wir noch die Welt bereisten
Mit Bildern von Isabel Kreitz
Hanser 2016, 192 Seiten, 18 Euro
eBook 13,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Sibylle Berg
"Nerds retten die Welt" - Gespräche mit denen, die es wissen