André Georgi
Tribunal
"Wir haben alles verloren – und alles tut weh" – Sätze, die die Grundstimmung in André Georgis erstem Roman treffend umreißen. Verloren: der Kronzeuge im Kriegsverbrecherprozess in Den Haag, aufgespürt und geschützt von einer internationalen Spezialeinheit der Anklage.
Netzwerke gemeinsamer Schuld
Am Tag seiner Aussage wird der Mann, der bereit ist, gegen seinen Kommandeur Kovac auszusagen, vor dem Gerichtsgebäude erschossen. Verloren schon längst die Zeugin Ivana Klasnic, eine der Frauen, die von den "Wölfen" vergewaltigt wurde und zusah, wie ihr Vater und ihre Brüder mit vielen anderen auf der Brücke von Visegrad erschlagen und ins Wasser geworfen wurden. Jasna Brandic, die Ermittlerin der Spezialeinheit, kann auch sie nicht schützen.
Der Herr der Wölfe, Kovac, ist ihr Gegner, verhaftet zwar und angeklagt, doch mächtig genug, Morde zu befehlen, Zeugen einzuschüchtern, denn seine Männer überwintern in entlegenen serbischen Gebieten. Und werden von offizieller Seite geschützt, bewegen sich in Netzwerken der gemeinsamen Schuld.
"Sie geht raus an den Strand, verschiebt die Lebensplanung auf später. Jetzt ist nicht die Zeit dafür. Denn Kovac’ Triumph kann das Tribunal zerstören, alles, was Peneguy und sie aufgebaut haben. Die Anklage können sie abschreiben – keine Zeugen, keine Anklage. So einen Prozess können sie nicht mit Indizien führen".
Der Schmerz bleibt
Die Zeit ist also ein weiterer Gegner, denn wenn es nicht gelingt, Kovac zu überführen, war der Prozess in Den Haag vergeblich und der Massenmörder kommt frei. Ihr Schmerz und ihr Zorn treiben die Ermittlerin, die in Berlin Kriminalbeamtin war, in immer schnellerem Tempo voran und geben den Takt und den Rhythmus dieses ungewöhnlichen Politthrillers vor. Der Schmerz über das, was im ersten europäischen Krieg nach dem zweiten Weltkrieg passierte, lässt niemals nach und grundiert die Handlung mit grellen und düsteren Farben.
Graue Stadt
Doch die Zeit der Stagnation, des ewigen Nachkriegs macht auch die Männer, die als "Wölfe" in Kroatien wüteten, mürbe, und ein neuer Zeuge namens Branko meldet sich bei Jasna. Im zweiten Teil des Romans macht sie sich auf den Weg nach Belgrad, die graue Stadt, die in den Erzählungen ihrer Mutter strahlend hell und heiter war, und dann immer tiefer hinein in die Gefahrenzone.
Bitterer Bruderkrieg
Das einzige Video von der Gräueltaten auf der Brücke von Visegrad will Kriegsveteran Branko nur ihr geben, und während sich die Männer von Kovacs’ versprengten Wölfen auf die Jagd nach ihm machen, bewegen sich die Ermittlerin und der Flüchtige aufeinander zu. Das Schicksal ihres Bruders und Vaters verbindet beide. André Georgi erzählt in knapper, lakonischer Sprache von Menschen, die in einem bitteren Bruderkrieg miteinander verstrickt sind, von fehlgeleiteter Loyalität, von Tapferkeit und unfassbarer Grausamkeit, und man glaubt als Leser, Filmbilder zu sehen, die sich in der Erkundung der Nachwehen des Krieges verdichten, langsam und böse, und dann immer schneller und atemloser, im Rhythmus der Jäger und der Flüchtenden.
Schuldig geworden
Wer Branko wirklich ist und in welcher Beziehung er zu Jasna steht, bleibt lange offen. Wie er zum Mörder wurde, wird in Rückblenden erzählt – von der serbischen Enklave Kostajnica, wo seine Eltern von kroatischen Freischärlern erschlagen wurden, und von der Vergeltungsaktion, als er die kroatischen Soldaten in die Luft sprengte und bei den "Wölfen" blieb – und schuldig wurde.
"Mich kannst du töten, hatte der kroatische Kommandant zu Branko gesagt. Dein Schmerz wird bleiben."
Mitten in Europa
Andre Georgis Roman «Tribunal» beschreibt die Angst vor einem Mann, der 2000 Kilometer entfernt im holländischen Gefängnis die Macht hat, Zeugen seines Massakers auslöschen zu lassen, und nur der Weg zurück in den Schmerz, der erlitten wurde, kann diese Angst besiegen helfen. Wie hoch der Preis dafür ist, verschweigt dieser kluge Roman über eine der vielen blutigen Geschichten eines Krieges mitten in Europa nicht, und als Europäer werden wir uns diese Auseinandersetzung mit Verlust und Schmerz nicht ersparen dürfen.
(Lore Kleinert)
André Georgi *1965 in Kopenhagen, in Berlin aufgewachsen, Drehbuchautor und Dramaturg
André Georgi "Tribunal"
Suhrkamp Taschenbuch 2014, 316 Seiten, 14.99 Euro
eBook 12,99 Euro, Audiobook 19,99 Euro