Lavie Tidhar
Maror
Krimi Bestenliste Platz 1
„Ich hasse dieses Land“, sagt der korrupte und drogenabhängige Polizeibeamte Avi Sagi, als er erkennt, dass er mal wieder als Marionette und Waffe für Interessen eingesetzt wurde, die er kaum durchschaut.
Netzwerke
„Ich liebe dieses Land“ - am Ende von Tidhars Höllenritt durch 40 Jahre Geschichte Israels hat Cohen, der sich vom Polizisten zum hohen Geheimdienstbeamten hochgedient hat, das letzte Wort. Er ist das Bindeglied zwischen all den gewalttätigen Episoden dieser Jahrzehnte, ebenso wie auch die Musik, der der Autor große Aufmerksamkeit widmet, von den Liedern der Staatsgründer und Kibbuzim bis zu den friedenssehnsüchtigen Schlagern der Neunziger Jahre. 1974 prügeln Cohen und sein Partner Eddy ein falsches Geständnis wegen des Mordes an einer jungen Frau aus einem Mann heraus, der im Gefängnis sterben wird, und die Abwärtsspirale von Korruption dreht sich rasch und rascher: Cohen wird aus dem Streifendienst nach Tel Aviv befördert, Eddie wird Chief Inspector. An der libanesischen Grenze nimmt der allumfassende Drogenhandel im Krieg seinen Anfang, und Männer wie z.B. Yair finden ihre Bestimmung und werden mit Cohens Hilfe in die Netzwerke im internationalen Waffenhandel eingepasst.
„Er war nicht schlau, aber das musste er auch nicht sein. Er hatte sich hochgearbeitet, verstand etwas vom Schießen und In-die-Luft-Jagen. Die Armee hatte ihm einen Beruf verschafft und eine Aufgabe im Libanon, und als sie dort nicht mehr gebraucht wurden, waren sie kaum für etwas anderes gut.“
Schattenseiten
Zu den düstersten Kapiteln gehören der Drogen- und Waffenschmuggel und die Ausrüstung der schlimmsten Terroristen Lateinamerikas in den 80er Jahren. Wir lernen die Akteure, die sich in den weitgespannten kriminellen Netzwerken der dunklen Seite des Staates verfangen haben, kennen: Yair und Nir, im Kibbuz aufgewachsen und ebenfalls Veteran des Libanonkriegs, bilden in Chile Einheiten für Pinochet aus, in Peru Milizen gegen die Aufständischen, in Kolumbien die Fußtruppen der Drogenbarone.
„Irgendein Israeli war immer schon vor Ort, ein Mann mit Beziehungen zu den Einheimischen, dann wurde ein weiterer stiller Waffenhandel vereinbart und die nächste Ausbildungsrunde irgendwo anders. Überall in Lateinamerika waren Israelis.“
Die meisten Söldner überleben nicht. Großartig und grauenvoll, wie Tidhar Schlaglichter auf die Schattenseite eines Staates richtet, der sich in seinen Methoden kaum von allen anderen unterscheidet. Schonungslos breitet der Autor in einem Tableau mit vielen Facetten aus, wie sich der Staat in seiner bedrohten Existenz skrupellose Drahtzieher und Verbrecher zunutze macht und Aufklärung allzu oft verhindert. Und das alles rechtfertigt:
„Aus irgendeinem Grund dachte er an Cohen, der schweigend durch die Jahre ging. Ein Mann, für den das Land Israel möglicherweise geschaffen worden war, Cohen mit einem Gewehr und Cohen mit einem Zitat, immer verwendete er anderer Leute Worte und anderer Leute Gedanken.“
Bedrohung
Auf seine Weise sorgt er für Gerechtigkeit, jedoch mit drastischen Mitteln, die wirkliche Aufklärung verhindern, anderen zur Last gelegt werden und die eigentlichen Täter im Nachhinein reinwaschen, da sie niemals mehr zur Verantwortung gezogen werden können. Reale Vorbilder zum Beispiel für Dschinghis, einen Vergewaltiger und Mörder, General und später Minister gibt es durchaus, und Lavie Thidar baut sie, kaum getarnt, in seinen Roman ein. Fast prophetisch scheint ein Menetekel der Zukunft in einigen Szenen auf und verweist auf die jüngste Geschichte des Staates Israel. Die Recherchen der Journalistin Sylvie, die von einem Klatschblatt schließlich zur Ha’aretz wechselt, belegen, wie schon unmittelbar nach dem Sechstagekrieg der Landraub an der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland beginnt.
„Was denken Sie, werden wir mit dem Westjordanland machen, jetzt, wo wir’s endlich haben? Wir werden es besiedeln. Wir werden es bebauen. Und damit fängt es an. Wie es endet, weiß ich nicht.“
Land konnte jetzt gekauft und bebaut werden, obwohl es zunächst verboten war, und Thidar schildert akribisch, wie die üblischen Drahtzieher verhindern, dass Sylvies Artikel in der Zeitschrift von Uri Avneri erscheint.
Maror heißen die bitteren Kräuter, die beim Seder zu Pessach gegessen werden, um an den Schmerz des jüdischen Exils in Ägypten zu erinnern (Exodus 12:8). Thidars Geschichte Israels aus dem Blickwinkel des organisierten Verbrechens ist bitter, denn sie zeigt, wie wenig tragfähig Gründungsmythen, Religion oder Ideologie letztlich sind, wenn offene und latente Kriege sich abwechseln und mit der Bedrohung alle Mittel gerechtfertigt werden, wie hier von Cohen:
„Du findest meine Arbeit abstoßend. Ich auch. Aber Habgier treibt mich nicht an, Nir, sondern das Bedürfnis nach Stabilität…Manches lässt sich unmöglich verhindern. Krieg. Drogen. Aber man kann sie verwalten. Und das machen wir. Wir halten die Stellung. Wir wahren den Frieden.“
Am Ende ist auch er von krassem Eigeninteresse getrieben, und nach diesem verstörenden, politischen Roman Noir bleibt die traurige Frage des Dichters Bialik in „Der Vogel“:
„Sing für mich, sag, lieber Zugvogel aus dem Land der fernen Wunder; Kann es sein, dass in dem heißen und schönen Land ähnlich viel Böses und Kummer herrschen?“
(Lore Kleinert)
Lavie Tidhar, *1976 in Israel, mehrfach ausgezeichneter englischsprachiger Autor von Science-Fiction und Fantasy
Lavie Tidhar „Maror“
aus dem Englischen von Conny Lösch
Thriller, Suhrkamp 2024, 639 Seiten, 22 Euro