Sigrid Nunez
Der Freund
"Was sind wir, Apollo und ich, wenn nicht zwei Einsame, die einander schützen, grenzen und grüßen? Es ist gut, dass die Dinge klar sind. Wunder oder kein Wunder, was immer geschieht, nichts wird uns trennen."
Ein neuer Hausgenosse
Apollo, die riesige dänische Dogge, wurde zum Freund, und Sigrid Nunez reflektiert in ihrem Memoir, wie es dazu kam, nachdem ihr lebenslanger Freund, ein Schriftsteller, dessen Studentin sie einmal war, Selbstmord beging und sie diejenige war, bei der sein Hund landete. Manchmal spricht sie den toten Freund, der drei Witwen hinterlässt, sehr direkt an, erzählt ihm, was er nicht mehr hören kann, dann wieder hält sie all die Ideen und Erinnerungen fest, die im Prozess der Annäherung an den neuen Hausgenossen in ihr aufsteigen: Über den Selbstmord, über Tiere und Hunde im Besonderen, über ihre Studenten, denn sie unterrichtet Kreatives Schreiben und ist selbst Autorin. Was aus Verpflichtung gegenüber dem Freund begann, wird zur intensiven Bindung an den großen, alternden Hund, voller Respekt vor dem anderen, fremden Lebewesen.
"Sie begehen keinen Selbstmord. Sie weinen nicht. Aber sie können zerbrechen, und sie tun es. Ihre Herzen können brechen, und sie tun es. Sie können den Verstand verlieren, und sie tun es."
Verlust und Trauer
Die namenlose Frau trauert, der Hund trauert ebenso, und während sie vom Verlust ihrer Wohnung in New York bedroht ist, denn Hunde sind nicht erlaubt, setzt über die Reflexion dieses neuen, ungewohnten Lebens mit einem Hausgenossen allmählich Heilung ein. Indem sie ihren Schmerz mit Apollo teilt, indem sie ihn kennenlernt, wird es der Schriftstellerin möglich, alle Verästelungen von Verlust und Trauer zu erkunden und literarisch zu umkreisen. Amüsant schweift sie dabei von Fundstücken aus vielen Büchern bekannter Schriftsteller zum neuen Puritanismus, der sich unter ihren Studenten breitmacht. Nie verweilt sie allzu lange bei einer Eingebung, sondern bewegt sich zwischen den Zeiten, als ein Seminar noch ein erotischer Ort sein konnte, bis zur MeToo-Debatte an heutigen Universitäten und erschafft so eine einzigartige Mischung aus schmerzlicher Erfahrung, genauer Beobachtung und literarischer Kompetenz. Apollo wird dabei zu ihrem Hund und zum Fixstern, den sie nicht aus den Augen verliert.
Mit Verlusten leben
Die Form dieses intelligenten Spiels mit den Lesern lässt keine Grenzen zwischen Fiktion, Erinnerung und Geschichte zu, sondern erkundet das Wesen der Literatur, des Schreibens, indem es sich auf den Schmerz einlässt und um die Verluste im Leben weiß - und die Autorin, die 2018 mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, weiß, dass sie damit nicht allein ist, etwa wenn sie an Rilke, Wittgenstein oder Virginia Woolf denkt.
"Spricht die Dichterin über die Liebe oder den Tod? Nichts hat sich verändert. Es ist immer noch sehr simpel. Ich vermisse ihn. Ich vermisse ihn jeden Tag. Ich vermisse ihn sehr. Aber wie wäre es, wenn dieses Gefühl nicht mehr da wäre? Ich möchte nicht, dass das geschieht…Man kann Liebe nicht zur Eile antreiben, heißt es in einem Lied. Man kann auch Trauer nicht zur Eile antreiben."
Und auch Hunde kann man nur sehr begrenzt zur Eile antreiben. Das, was wir lesen, das, was Autoren geschrieben haben, ist kostbar, denn was zur Sprache gebracht werden kann, verbindet uns, auch mit den sprachlosen Mitgeschöpfen. Sigrid Nunez‘ Roman "Der Freund" ist eine Hommage an die Kraft des Erzählens und eines der ganz wichtigen Bücher dieses Frühlings.
(Lore Kleinert)
Sigrid Nunez, *1951 in New York City als Tochter einer deutschen Mutter und eines chinesisch-panamaischen Vaters, US-amerikanische Autorin mit einigen Auszeichnungen
Sigrid Nunez "Der Freund"
aus dem Amerikanischen von Anette Grube
Roman, Aufbau Verlag 2020, 235 Seiten, 20 Euro
eBook 14,99 Euro