Anna Kim
Geschichte eines Kindes
Im Juli 1953 bringt Carol Truttmann ein Kind zur Welt. Sie gibt den Jungen kurz nach der Geburt zur Adoption frei. Der Sozialdienst der Erzdiözese von Green Bay, Wisconsin/USA, wird sich um eine Pflegefamilie kümmern – aber das wird schon nach ein paar Wochen zum Problem.
Von Gott gewollt
Denn Daniels Hautfarbe ist offenbar nicht weiß, wie sich nach und nach herausstellt. Eine Katastrophe in einer Gesellschaft, in der Rassentrennung ehernes Gesetz ist. Die Schwestern im Sozialdienst sind irritiert: „Laut Schwester Aurelia besitzt der Säugling Körpermerkmale, die auf eine indianische Abstammung hinweisen könnten". Später heißt es dann, nach genauerer Untersuchung würden seine Körpermerkmale „eher denen eines Negers entsprechen, als denen eines Indianers."
Carol weigert sich, die Identität des Kindsvaters zu verraten. Unter diesen Umständen wird es schwierig, eine Pflegefamilie zu finden, denn man ist beim Sozialdienst der Erzdiözese Green Bay darauf bedacht,
„Kinder und Eltern zusammenzubringen, die innerlich und äußerlich zusammen passen ... wir erschaffen Familien, die natürlich, von Gott gewollt, wirken. ... Paare, die Mischlinge adoptieren wollen, sollten über die gesellschaftlichen Folgen ihres Wunsches nachdenken."
Wahre Begebenheit
Die Autorin Franziska, die als Writer in Residence in der amerikanischen Provinz an einem neuen Roman arbeiten will, erfährt von dieser Geschichte durch Zufall: Sie mietet ein Zimmer bei Joan, einer ehemaligen Deutschlehrerin, deren Ehemann nach einem Schlaganfall im Pflegeheim lebt. Dieser Mann ist Daniel Truttmann. Im Vorwort sagt Anna Kim:
„Als Autorin werden mir von Zeit zu Zeit Geschichten geschenkt, Geschichten, die mehr sind als Geschichten, Geschichten, die Welten in sich tragen. Auf einem solchen Geschenk basiert das vorliegende Buch, man könnte sagen: auf einer wahren Begebenheit."
Anna Kim wählt für diese Geschichte eine besondere Form: Zum einen läßt sie ihre Protagonistin Franziska von Daniels Schicksal erzählen, basierend auf den Schilderungen der Ehefrau Joan. Zum anderen belegen akribische Notizen der Erzdiözese den „Fall Daniel". Eine solche penibel geführte Akte gibt es tatsächlich, prall gefüllt mit rassistischen Zuordnungen und gängigen Verurteilungen, wie es in den USA der 1950er Jahre üblich war. Mit einer erfolgreichen Adoption wird diese Akte im September 1959 geschlossen.
Was ist Identität?
Joan, die mit dem „ersten Mulatten, der in Greenbay geboren wurde" verheiratet ist, führt die Schriftstellerin Franziska auch zu ihrer eigenen Geschichte und damit zur Biografie von Anna Kim. Mit unverblümter Offenheit fragt sie ihre Mieterin, ob es nicht schwierig sei,
„weit und breit die einzige Asiatin zu sein ... den Wurzeln entkomme man nicht, ich sei doch gemischt, oder?"
Damit öffnet sich eine dritte Ebene in diesem autofiktionalen Roman über eine wahre Begebenheit: Die Frage nach der eigenen Identität als Tochter einer koreanischen Mutter und eines österreichischen Vaters:
„Und je heftiger Joan wurde, je vehementer sie darauf bestand, recht zu haben, desto stärker spürte ich es wieder, meine Haare verloren ihren leichten Rotton, meine Lidfalten wurden schwerer und meine Augenwinkel spitzer - manchmal fühlte ich mich wie eine optische Täuschung, als wäre ich nicht die, die vorgebe zu sein ..."
Schließlich kehrt Franziska nach Wien zurück, um den Spuren der Sozialarbeiterin zu folgen, die im Auftrag der Diözese Green Bay nahezu manisch nach dem Vater von Daniel suchte. Ihre Tochter erzählt, dass sie während der Nazizeit Anthropologie in Wien studiert und sich mit Rassenlehre befasst hatte.
Wechsel der Perspektiven
Es gibt viele Zufälle in diesem Roman, die Anna Kim verblüffend schlüssig zusammenführt und dabei ebenso spannend wie berührend deutlich macht, was „racial profiling" aus Menschen macht, welchen Normen und Regeln sie sich unterwerfen müssen, um auch nur ansatzweise ein Gefühl von Zugehörigkeit zu entwickeln. Gerade der Wechsel der Perspektiven - die Betrachtung von außen und der Blick nach innen, literarisches Erzählen und bürokratisches Protokollieren - macht diesen Roman so bemerkenswert und wahrhaftig.
(Christiane Schwalbe)
Anna Kim, *1977 in Südkorea, kam 1979 nach Deutschland und zog weiter nach Wien, erhielt schon zahlreiche Preise, darunter den Literaturpreis der Europäischen Union, lebt in Wien. "Geschichte eines Kindes" stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2022.
Anna Kim "Geschichte eines Kindes"
Roman, Suhrkamp 2022, 220 Seiten, 23 Euro
eBook 19,99 Euro