Burghart Klaußner
Vor dem Anfang
Kurz vor Kriegsende, so erzählte es Klaußners Vater seinem Sohn, sei er fast auf einer Toilette erschossen worden. Das war 1987, kurz darauf starb der Vater. Aber seitdem ließ den Sohn das Thema nicht mehr los.
Zeit der Auflösung
Die Aussagen seines Vaters wurden zum Auslöser für das literarische Debüt des bekannten und vielfach ausgezeichneten Schauspielers, den wir zuletzt aus so bedeutenden Rollen wie "Das weiße Band" von Michael Haneke oder "Der Staat gegen Fritz Bauer" kennen. Die Aussage seines Vaters inspirierte ihn, er recherchierte die Ereignisse in den letzten Tagen in Berlin und schrieb diese kleine, intensive Geschichte auf, eine Episode nur, aber wohl typisch für eine Zeit der allgemeinen Auflösung, in der alle nur noch darauf warten, dass es endlich ein Ende hat mit dem Irrsinn des Krieges. Auch Fritz und Schultz hoffen sehnsüchtig darauf. Bislang haben sich die beiden ganz gut durchgewurstelt, ohne große Gefahr für Leib und Leben in der Fliegerreserve gedient,
"Schultz, weil er für die Front nicht mehr zu gebrauchen war, und Fritz, weil er sie nie gesehen hatte. … Fritz hatte gemacht, was er sein Leben lang am besten konnte: ausweichen, sich maskieren, sich rausreden und mit unheimlicher Geschicklichkeit seinen Vorteil suchen."
Da bekommen die beiden den Auftrag, die Geldkasse ihrer Einheit ins Reichsluftfahrtministerium zu bringen. Das liegt in Berlin Mitte, die beiden müssen also quer durch Berlin - mit zwei Fahrrädern, die schon deutlich bessere Tage gesehen haben. Ein gefährliches Unterfangen – und völlig sinnlos.
Irrfahrt durch Berlin
Sie erleben auf ihrer Irrfahrt unerwartet all' die Schrecken und (Todes)Ängste, die die Zivilbevölkerung im Krieg erdulden musste, auch, wie es sich anfühlt, wenn man im Luftschutzkeller eingeschlossen ist, weil offensichtlich das Wohnhaus darüber eingestürzt ist. Sie können sich ins Nachbarhaus retten:
"Schon nach drei, vier Schlägen war ein Loch entstanden, durch das man eine Treppe im anderen Keller sehen konnte. "Das ist Licht", rief eine der Frauen. Und tatsächlich: Oben war eine Tür. Und die stand offen."
Fritz und Schultz müssen zusammenhalten, nicht gerade einfach, denn die beiden sind total unterschiedliche Typen. Sie misstrauen einander und sind doch zugleich aufeinander angewiesen. Unterwegs verlieren sie sich, Fritz, der sich zu seinem Boot am Wannsee durchschlagen will, glaubt, dass Schultz mit dem Geld durchgebrannt ist. Fortan muss er sich allein helfen auf dem Weg nach Moorlake:
"In Moorlake war seine Mutter 1909 mit ihm als Neugeborenen direkt aus dem Krankenhaus, den Sommer zu verbringen, auf die Traute gegangen, die dort vor Anker lag. Was wäre das für ein Schicksal, Geburts- und Todesort so nah beieinander zu wissen? … Schicksal? Dieses Wort galt ihm nichts mehr. Es war ja wohl bis zum Erbrechen strapaziert worden."
Versteckt im Klo
Fritz, Alter Ego von Klaußners Vater, ist eher ein cooler Typ, lässt Ängste nur auf Distanz zu und glaubt unerschütterlich daran, es bis zum Boot zu schaffen. Kurz vor dem Ziel scheint sein Weg endgültig versperrt zu sein, er versteckt sich in einem Toilettenhäuschen:
"Der ganze Streifen Sand, auf dem sonst Strandkörbe einen Badeort nachspielten und Sonnenstühle ausgebreitet wurden, war übersät mit Soldaten. War voll mit Männern, die Waffen geschultert hatten, leichte und schwere Maschinengewehre schleppten und die nach einer offensichtlich soeben beendeten Marschpause von hier aus eingeschifft wurden. Es waren wohl beinah dreihundert Mann."
Klaußner schreibt knapp und schlicht, ohne große Dramatik, aber mit subtiler Spannung bis zum Schluß. Man merkt, dass er die Wahrheit schreiben will, erzählen, wie es in den letzten Tagen des Krieges wirklich zuging, als weder Strukturen noch Befehle das Leben regelten. Das ist eindringlich und unverfälscht und richtet den Blick auf das Chaos eines Alltags, der für Nachkriegsgeborene nur durch solche Geschichten nachvollziehbar wird.
(Christiane Schwalbe)
Burghart Klaußner, *1949 in Berlin, absolvierte die Max-Reinhardt-Schauspielschule und hat an nahezu allen bedeutenden deutschsprachigen Bühnen gespielt, lebt in Hamburg
Burghart Klaußner "Vor dem Anfang"
Kiepenheuer & Witsch 2018, 176 Seiten, 18 Euro
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