Dinçer Güçyeter
Unser Deutschlandmärchen
Preis der Leipziger Buchmesse 2023
"Hanife ist mein Name. Ich bin die Tochter der Nomadin Ayse. Sie kam aus Griechenland, als viele Menschen auf einmal das Land verlassen sollten. Zusammen mit vielen anderen Frauen wurde sie auf den Marktplatz des Dorfes gefahren." Um dort von Männern als Sklavinnen ins Haus geholt zu werden, die waschen, putzen und dem Mann sexuell stets zu Diensten sein mussten.
Raus aus der Armut
Hanifes Tochter heißt Fatma, und Fatma ist die Mutter von Dinçer. Güçyeter erzählt die Geschichten von Frauen, die, von Männern beherrscht, niemals ihre eigenen Bedürfnisse kennenlernen, geschweige denn leben durften. Fatmas Schicksal ist es, einem Mann „mit riesigem Kopf" nach Deutschland zu folgen, als Ehefrau. Es ist nicht ihr Wunsch, sie muss dem Onkel gehorchen:
„Wenn sie dort Anker wirft, haben die Jungs auch eine Chance, aus dieser Armut rauszukommen, ohne Brot ist die Heimat kein goldener Käfig, lass Fatma gehen, rette die Kinder aus diesem Elend." Und so beginnt im Jahr 1965 ihr neues Leben „in einem Land, wo man das Geld von den Bäumen pflücken kann. Ich weiß nicht, so hat man es uns erzählt." Davon kann natürlich keine Rede sein, sie leben in einer Arbeiter WG, sind arm, es fehlt an allem. Aber nach Hause schreibt Fatma nichts davon:
„Habe jetzt einen Arbeitsplatz in der Fabrik, werde gut verdienen und, wer weiß, vielleicht kann ich mir sogar bald einen Mercedes kaufen.
Unerfüllte Träume
Träume, die nie erfüllt werden, denn Yilmaz, ihr Mann, ist ein Nichtsnutz, läßt sich von jedem verlockenden Angebot ködern, um hinterher als Betrogener zurückzubleiben. Fatma schuftet noch mehr, in der Fabrik und als Putzfrau, später als Arbeiterin im Akkord - und das wird ihr Schicksal bleiben: den Schulden des Ehemannes, der eine Kneipe betreibt, hinterher zu arbeiten und sie doch niemals ganz tilgen zu können. Sie wird jahrzehntelang "in Fabrikhallen, auf Spargel- und Erdbeerfeldern" hart arbeiten, um immer auch für jene Platz und Essen zu haben, die aus der Türkei nachkommen. Oder in Not geraten. So ist es Sitte in ihrem Land. Fatma setzt ihre Gesundheit aufs Spiel, wird häufig und schwer krank bei dieser im Sinne des Wortes Knochenarbeit, "Akkord, Akkord ..."
„Letztendlich ist es ein fremdes Land, du bis der Gast, der produzieren soll, dein Platz ist befristet, solange du funktionierst ... Du bist jung und hast Kraft, beschwere dich nicht wegen der Arbeit, arbeite, Fatma, sagte ich zu mir ... Es ist, wie es ist, du bist die Maschine, wenn du kaputt bist, bist du eben kaputt."
Dabei wünscht sie sich nichts sehnlicher als ein Kind – nach 14 Jahren bekommt sie endlich den ersten Sohn, dessen Name der Schwiegervater per Telegramm bestimmt: Dinçer. In Yilmaz' Kneipe sind eine Woche lang die Getränke frei, „die Geburt eines Sohnes macht ihn zum Sultan. Zu einem Sultan mit nacktem Hintern." Bei Yilmaz lassen viele Kunden viel anschreiben. Als die Familie dann in materielle Not gerät, will es niemand gewesen sein.
Wohin mit der Geschichte
„Vater, Mutter, wohin jetzt mit mir, wohin mit dieser Geschichte ...” der Geschichte der ersten Generation der sogenannten Gastarbeiter in Deutschland, zu der Dinçer Güçyeters Familie gehört. Er erzählt sie in vielen Details und in einer außergewöhnlichen und überraschenden Vielfalt poetischer Formen: als Gastarbeiterchor und im Zwiegespräch mit seiner Mutter, in Gedichten, Dialogen, Rückblicken, Briefen und Fotos. Er spielt mit Stimmen und Sprache, sucht und findet einen neuen, eigenen Ton, der sanft und zart ist, aber auch hart und ruppig. Es ist die politische und private Geschichte der Gastarbeiter, so bewegend wie auch seine eigene - als sehnsüchtig erwarteter kleiner Prinz, dessen Mutter nie da ist; deren Wünsche er später erfüllt, weil sie nur eine Lehre als Maschinenbauer im Blaumann als Arbeit akzeptiert, nicht aber Schreiben, Theater, Bücher.
Seine Mutter Fatma steht im Mittelpunkt - stellvertretend für so viele andere mit dem gleichen Schicksal: ihre Kraft und ihr Durchhaltevermögen, ihre Ängste angesichts von Brandanschlägen und NSU-Morden; ihre Träume und Sehnsüchte in der neuen Heimat, ihre Verwurzelung in der patriarchal-autoritären Kultur ihres Heimatdorfes. „Unser Deutschlandmärchen” ist ein beeindruckendes Romandebüt - lebendig und poetisch, manchmal klagend, aber niemals anklagend, ernsthaft und humorvoll, emotional und berührend:
„So oft hab ich mir gewünscht, in einem Glauben oder an einem Ort Wurzeln zu schlagen. Aber dein Wind hat auch mich gepackt. Mit dem Alter weiß ich, es gibt kein Entwischen mehr. Nun bin ich auch ein Bürger keines Landes, keiner Religion ..."
(Christiane Schwalbe)
Dinçer Güçyeter *1979 in Nettetal/Rheinland, deutscher Theatermacher, Lyriker, Herausgeber und Verleger, ausgezeichnet mit dem renommierten Peter-Huchel-Preis, lebt in Nettetal
Dinçer Güçyeter "Unser Deutschlandmärchen"
Verlag mikrotext 2023, 216 Seiten, 25 Euro
eBook 13,99 Euro