Jonathan Lee
Joy
„Fokussiertheit. Genau. Nichts da Verzweiflung und Verzagen. Klarheit, Fokussiertheit, Effizienz. Deshalb hat sie diesen Tag gewählt, einen Jahrestag. Jahrestage sind hübsch ordentliche Schatten vergangener Tage – linear, exakt, von jener gedämpften Wahrheit, die die Distanz hervorbringt.“
Freudloses Leben
„Joy“, Freude, ist etwas Flüchtiges, und die 33jährige Anwältin Joy Stephens hat keine Hoffnung mehr, das seltene Glück zurückzugewinnen - wenn sie es denn je kannte und nicht nur mit Aufstieg und Geld verwechselte. Dass sie am Ende des Tages zur Partnerin ihrer Elitekanzlei in London gekürt werden und eine Dankesrede halten soll, hilft ihr nicht mehr: Die erfolgreiche Frau ist entschlossen, sich das Leben zu nehmen. Die Distanz zu sich selbst ist zu groß geworden, alle Sicherheiten sind erodiert und schließlich aufgebraucht, und die Verzweiflung über das Verschwinden ihres kleinen Neffen, für den sie an diesem Tag vor sechs Jahren in Wimbledon verantwortlich war, hat sie nie verlassen. Minutiös verfolgt der Roman ihren Weg an diesem Freitag – bis zum Sturz über das Treppengeländer der Firma, ins Koma. Selbstmord oder Unfall? Joys selbstironische und sehr unterhaltsame Sicht auf ihr freudloses Leben entzieht sich der Suche nach eindeutigen Antworten, etwa wenn sie sich fragt: „Machen normale Leute Fitnesstraining, bevor sie sich das Leben nehmen?“
Erbarmungslose Arbeitswelt
Ihr ernsthafter Fitnesstrainer Samir ist einer der vier Personen, deren Beobachtungen und Erinnerungen der Autor nach dem Sprung oder eben Sturz der jungen Erfolgsfrau in die Beschreibung ihres letzten Tages einschiebt, gut konstruiert und jeweils als Gespräch mit einem Therapeuten angelegt. Ihr egozentrischer älterer Ehemann Dennis, erfolgloser Hochschullehrer und Möchtegern-Autor, ihr Kollege Peter, ihr langjähriger heimlicher Lover und Mann ihrer besten Freundin und ihre verbitterte Assistentin Barbara sprechen ebenfalls über Joy, der sie nah waren. In unterschiedlicher Weise waren sie mit ihr verbunden, und ihre Projektionen und Fehleinschätzungen geben Aufschluss über die erbarmungslose Arbeitswelt, mit 16-Stunden-Tagen, dem Druck, den täglichen Gemeinheiten. Ihre Ehe, die ihr zunächst Schutz vor der Verzweiflung bot, ist längst am Ende, und der Blick, den sie auf ihren Mann wirft, steht seiner giftigen Sicht auf sie in nichts nach:
„Ältere Männer. Sie müssten mit Warnhinweisen versehen sein. Als sie geheiratet haben, war er noch einigermaßen jung, aber niemand hat ihr gesagt, dass der Abstand irgendwie immer größer werden würde, dass für einen Mann über vierzig jedes Jahr ein Hundejahr ist, verbunden mit Flatulenz, Paranoia, regelmäßigen Nickerchen und vehementem Bellen am falschen Baum.“
Lebenslügen
Lee schildert das scheinbar so perfekte Leben der Großstadt-Yuppies mit sarkastischem Humor, und zugleich gewährt er dem zunächst durchweg unsympathischen Personal des Romans die Gnade, sich im Laufe der Gespräche komplexer zu entfalten. Je mehr sie sich sprechend erinnern, desto schärfer wird das Bild, von Joy und von ihnen selbst, das sie hinter ihren Schutzbehauptungen und Selbstbespiegelungen verbergen.
Auch der Wahrheit hinter Joys Selbstekel kommt der Roman „Joy“ in eindringlicher Weise näher: einem „Leben übervoll mit Lügen, großen, kleinen, alle miteinander verflochten, und das zeichnet Jonathan Lees Buch aus. Seine wache Beobachtungsgabe und seine den je einzelnen Menschen angemessene Sprache entwickelt einen fast musikalischen Sog, und die unerwarteten Wendungen durchkreuzen die Vorurteile und Annahmen der Leserschaft immer wieder, halten uns Spiegel vor und bieten ein treffendes Bild für Lebenslügen in einer unbarmherzigen Gesellschaft.
(Lore Kleinert)
Jonathan Lee, *1981 in Surrey, England, Autor von Romanen und Hörbuchern, lebt in New York
Jonathan Lee „Joy“
aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann
Roman, Diogenes Verlag 2023, 373 Seiten, 25 Euro
eBook 21,99 Euro, Hörbuch 13,95 Euro