Han Kang
Die Vegetarierin
Eine Ehefrau, die tut, was ihr Mann von ihr verlangt, weil es den sozialen Regeln entspricht, die einkauft, kocht, putzt, durch Teilzeitjobs zum Familieneinkommen beiträgt, wenig redet, niemals streitet, pflichtbewusst und anspruchslos ist - eine Frau, "die an Durchschnittlichkeit kaum zu überbieten war."
Unverständnis und Ablehnung
Durchschnittlich - das ist Yong-Hye in den Augen ihres Mannes:
"Eine Schöne, eine Intelligente, eine betörend Sinnliche oder gar eine Tochter aus reichem Haus hätte mein Leben sicher durcheinander gebracht."
Er irrt sich, denn diese Frau wird sein Leben komplett aus den Angeln heben, und nicht nur das seine. Ihr Entschluss, Vegetarierin zu werden, kommt über Nacht - nicht von ungefähr, denn sie hatte einen Traum. Mehr erzählt sie zu ihrer plötzlichen Ablehnung alles Tierischen nicht, setzt sie aber konsequent durch. In einem Land, in dem man gern und viel Fleisch isst, oft in geselliger Runde, stößt dieser Verzicht auf Unverständnis und Ablehnung. Nicht nur beim Ehemann, der eine Paranoia, zumindest aber eine Psychose vermutet, sondern in der gesamten Familie.
Klammernde Seelen
Als Yong-Hyes Vater sie nicht nur ohrfeigt, sondern ihr auch ein Stück Fleisch in den Mund zwingt, beginnt das Drama, das in Gewalt und Selbstzerstörung endet. Als Leser nehmen wir teil an ihren Gedanken und Träumen, begreifen langsam, warum sie über "einen undefinierbaren Druck in meiner Magengrube" klagt:
"Was sich dort angesammelt und festgesetzt hat, das sind Schreie und Gebrüll. Und die kommen vom Fleisch. Ich habe zuviel davon gegessen. All die Seelen sind dort eingeklemmt, da bin ich sicher … klammern sich hartnäckig in meinem Magen fest."
Aus der Ablehnung von Fleisch wird eine mystische Sehnsucht nach allem Pflanzlichen, mit der sich schließlich Lust und Sinnlichkeit verbinden, als Yong-Hyes Schwager, ein Videokünstler, seinen und ihren Körper üppig mit Blumen und Blüten bemalt, um sich in buchstäblicher Umschlingung mit ihr zu vereinen. Aber auch diese Situation endet in Zwang und Gewalt, als Yong-Hyes Schwester auftaucht und sie nach diesem "vulgären Skandal" in die Psychiatrie bringen läßt, wo sie eines Tages zwangsernährt wird.
Prozess der Rebellion
Ein komplexer, beeindruckender Roman, in dem die südkoreanische Autorin einen aufwühlenden Prozess erst der Rebellion und dann der Regression schildert, der tief in der Kindheit beginnt und sich langsam durch den Körper der zunächst verzweifelten, dann in einer Art Trance schwebenden Protagonistin wieder ins Bewusstsein kämpft. Sie wird buchstäblich von innen aufgefressen – durch den Konflikt mit ihrer sozialen Umwelt und die Angst der Familie, das Gesicht zu verlieren, durch die Anforderungen einer patriarchalen Gesellschaft und durch frühkindliche Erlebnisse, die sich tief im Unterbewusstsein verankert haben. Rätselhaft und in seiner Tiefgründigkeit wohl nur im Kontext der uns unbekannten koreanischen Kultur zu verstehen, fasziniert dieser Roman mit kompromisslosen und dichten Bildern und einer klaren, eindringlichen Sprache, die seelische Qualen nachvollziehbar macht.
Weibliche Emanzipation
Die Autorin spiegelt in der Figur der Vegetarierin den Kampf um Emanzipation und das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, selbst wenn es im Tod endet. Schockierend realistisch schildert sie eine Gewaltspirale, die sämtliche sozialen Standards aushebelt. So wird aus dem ursprünglichen Verzicht auf Fleisch die Geschichte einer Obsession, verbunden mit einer künstlerischen Befreiung von gesellschaftlichen Strafaktionen und einer Ausgrenzung, die so sehr ins Extrem geht, dass allein in der Selbstzerstörung die Rettung liegt und damit in einem mühsamen Prozess der Transformation des eigenen Ichs.
(Christiane Schwalbe)
Han Kang *1970, südkoreanische Schriftstellerin, hat für diesen Roman den renommierten Man Booker International Prize bekommen, für den u.a. auch Orhan Pamuk und Robert Seethaler nominiert waren. Sie lebt in Seoul
Han Kang "Die Vegetarierin"
Übersetzt von Ki-Hyang Lee
Roman, Aufbau Verlag 2016, 190 Seiten, 18,95 Euro
eBook 14,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Han Kang
Weiß