Jan Wolkers
Amerikanisch kurz
Als Kind wurden Erik van Poelgeest die Haare immer ganz kurz geschnitten, “amerikanisch kurz”, und man sah die Narbe auf seiner Schläfe, wo ihn als Säugling geschmolzenes Blei eines Inhalationskessels verletzt hatte.
Krause Haare, krauser Sinn
Das Gefühl, im Stich gelassen zu werden, ist er seitdem nie wieder losgeworden.
“Alle zwei Wochen saß ich mit einem Laken umgehängt auf einem mit der Bibel und dem Märtyrerbuch erhöhten Stuhl. Ich weinte vor Wut. Immer endete es damit, dass ich eine Ohrfeige bekam. Du bist ein widerspenstiges Kind, sagte mein Vater. Bockig und stur. Krause Haare, krauser Sinn. Und er schor mir den Schädel kahl.”
Als Erik seiner Freundin Elly dies erzählt, hat der achtzehnjährige Kunststudent seine streng calvinistische Familie verlassen. Er lässt die Haare über seine Schläfennarbe wachsen, und er ist untergetaucht. Da er 1944 fürchten muss, zur Zwangsarbeit nach Deutschland gezwungen zu werden, streunt er durch Leiden, schlägt sich mit dem Bemalen von Lampenschirmen durch und versteckt sich schließlich in der Kunstakademie.
Scheinbare Freiheit
Jan Wolkers (1925 – 2007) verarbeitete in diesem ersten Roman seine eigene Einsamkeit, nachdem er die calvinistische Enge seiner Familie nicht mehr ertragen hatte und sein Bruder, an dem er sehr hing, 1944 verstarb. Er selbst musste sich vor dem Arbeitseinsatz verstecken, in der privaten Akademie eines niederländischen Nazis, übte sich im Zeichnen, genoss den Kontakt mit Mädchen, die scheinbare Freiheit in der Unfreiheit der Besatzung. Sein Roman wurde zum Klassiker der niederländischen Literatur nach dem Krieg und machte ihn, der auch als Bildhauer bekannt wurde, unabhängig und berühmt. Als er ihn für die Verfilmung überarbeitete, klagte er: "Träume abends schon wieder vom Krieg."
Verzweifelter Kampf
Die Lebenslust seines Alter Ego, durch die Umstände immer wieder gebremst, beschreibt er in einem direkten, authentischen Stil, dem die frische Übersetzung von Rosemarie Still sehr gerecht wird: Eric ist unverfroren, ungeduldig und nimmt alles, was sich ihm bietet, ohne viel zurückzugeben, und dennoch ist sein verzweifelter Kampf um etwas Zukunft nachvollziehbar und berührend. Der Tod des Bruders führt ihm die Entfremdung von der Familie und die eigene Verlorenheit noch einmal drastisch vor Augen, und er kapselt sich immer mehr ein. Aus den sexuellen Begegnungen mit der schüchternen Ans und schließlich mit Elly, die sich als Jüdin ebenfalls versteckt, entsteht nichts, das seine Sehnsucht stillen könnte.
"Er schaute an ihren Beinen hoch unter ihren Rock. Da ist es rosig und warm, dachte er. Ich habe mich so danach gesehnt. Aber jetzt nicht mehr. Es hat zu lange gedauert. Ich war so lange allein. Sie schnattert so. Ich kann mich vielleicht nicht mehr an eine lebendige Frau gewöhnen."
Sexuelle Obsession
Wider Willen, aber auch sehenden Auges driftet der junge Mann in eine fast surreale Stille ab, in der die sexuelle Obsession zu einer weiblichen Gipsfigur sein Abdriften aus dem Leben symbolisiert. Die Fotos des jungen Jan Wolkers, seine Bleistiftskizzen während des Krieges und nicht zuletzt Onno Blooms Nachwort machen diesen Künstlerroman in diesem Buchmessenjahr der niederländischen Literatur zu einer wichtigen Wiederentdeckung.
(Lore Kleinert)
Jan Wolkers (1925–2007) war Autor, Maler und Bildhauer. Er gilt als einer der vier wichtigsten niederländischen Schriftsteller der Nachkriegszeit.
Jan Wolkers "Amerikanisch kurz"
"Kort Americaans" übersetzt aus dem Niederländischen von Rosemarie Still
Roman, Alexander Verlag 2016, 248 Seiten, 22,00 Euro
eBook 19,99 Euro