Jocelyne Saucier
Was dir bleibt
Gladys ist 76 und lebt im Norden Kanadas. Sie begibt sich ganz unerwartet auf Reisen, fährt mit dem Zug scheinbar ziellos durch's Land, allein. Es sind die legendären Züge Kanadas – sie heißen Transcontinental, Buddcar, Polar Bear Express und Northlander.
Geboren im School-Train
Gladys kennt und liebt das Reisen mit der Bahn, schließlich wurde sie in einem School-Train geboren. Das war ein Zug, der durch die dünn besiedelten Gebiete fuhr, um Kindern in den vielen kleinen Orten unterwegs die Möglichkeit zu geben, abseits üblicher Bildungsinstitutionen zu lernen, was man für's Leben so braucht: Schreiben, Rechnen, Geschichte und etwas Erdkunde:
“Die fahrende Schule machte auf einer Strecke von hundert, zweihundert Kilometern fünf, sechs, sieben Mal Halt und kehrte nach etwa einem Monat zu den Kindern der ersten Station zurück, die, eingedeckt mit Hausaufgaben und Übungen, auf sie gewartet hatten.”
Rätselhafte Irrfahrt
Gladys Vater war Lehrer in solch einem Zug und lebte dort auch mit seiner Familie. Viel mehr erfährt man zunächst nicht über diese Frau, die aus der kleinen Siedlung Swastika im Norden Kanadas einfach abhaut und mit dem Northlander in Richtung Nirgendwo verschwindet:
“Alle fühlen sich schuldig, wegen eines Worts, einer Geste, eines Blicks, wegen etwas, das sie getan oder nicht getan haben, etwas, das in der Verkettung unglücklicher Fügungen untergegangen ist, die es Gladys ermöglichte, ihre Irrfahrt fortzusetzen, ohne dass jemand sie aufhielt.”
Ihr Verschwinden bleibt ein Rätsel, denn sie lässt eine über 50jährige Tochter zurück, die sie seit einem ersten Selbstmordversuch wieder unter ihre Fittiche genommen hat. Es bleibt nicht bei diesem einen Versuch und auch sonst ist die depressive Frau alles andere als allein lebensfähig.
Inmitten von Wäldern und Seen
Ein junger Englischlehrer und Zugfanatiker folgt den kargen Spuren, die "die Frau aus Swastika" hinterläßt und begegnet dabei skurrillen und wortkargen Menschen in einsamen Dörfern, die schon lange hier leben, fern jeder größeren Stadt, inmitten von Wäldern, Seen und Flüssen.
“Die Gleise waren unser Leben – diesen Satz hörte ich immer wieder, ein nostalgisches Leitmotiv, vorgetragen von den heiseren Stimmen alter Menschen, und dadurch verstand ich auch jenen Satz, der mir ebenfalls regelmäßig zu Ohren kam: Gladys ist ein Kind der Schienen.”
Und wie sich Gladys in den Zügen verliert, verliert die Autorin sich in den vielen Nebenschauplätzen, als hätte sie Ziel und Richtung verloren - bis irgendwann endlich klar wird, warum die alte Frau die Reise unternommen hat.
Frauen, Männer und Familie
Jocelyne Saucier lebt selbst in einem abgeschiedenen Ort im Norden Kanadas und hat zwei wunderbare Romane geschrieben, die sich mit dem Alter von Frauen und Männern und mit dem, was Familie alles bedeuten kann, auf überaus spannende Weise auseinandersetzen: "Ein Leben mehr" und "Niemals ohne sie". Beide Romane sind im Gegensatz zu "Was dir bleibt" uneingeschränkt zu empfehlen.
(Christiane Schwalbe)
Jocelyne Saucier "Was dir bleibt"
aus dem Französischen (Québec) von Sonja Finck und Frank Weigand
Roman, Insel Verlag 2020, 253 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro