Kim Thúy
Grosser Bruder, kleine Schwester
Geschichten aus dem Krieg – von Alexandre und Mai, von ihrer Tochter Tâm und deren Amme, von Kolonisten und Kulis, von Gold und Geld zwischen Buchdeckeln, von GI's, Vietcong und Vietminh, von heller und dunkler Haut, von käuflicher Liebe und brutaler Vergewaltigung, von Bombenangriffen, Massakern, Agent Orange und den Folgen bis in unsere Zeit.
Bruchstücke der Erinnerung
Kim Thúy konfrontiert mit einem ungewöhnlichen Buch, in dem sie Bruchstücke, Erinnerungen und Beobachtungen lose miteinander verknüpft, "um der Wahrheit auf die Spur zu kommen", wissend, dass ihre fragmentarischen Geschichten Teile eines großen Ganzen sind, das kaum zu beschreiben, zu begreifen, geschweige denn zu vergessen ist. Sie macht den Versuch einer literarischen und poetischen Annäherung an ein Land und seine Menschen, die unter Kolonisation und Kriegen gelitten haben, in denen unvorstellbares Unrecht begangen wurde:
"Zur Zeit der Kolonisierung sah Frankreich Indochina und damit auch Vietnam weniger als Siedlungsgebiet denn als Zone wirtschaftlicher Ausbeutung. Die neu angelegten Plantagen ermöglichten die Teilnahme am Wettrennen um den Gummi."
Verlust und Begegnung
Es sind auch Geschichten von Liebe und Nähe in einer Zeit grenzenloser Gewalt, in der man sich verliert und wieder findet, in der man sich verliebt, obwohl die erste Begegnung von Unterdrückung und Hass geprägt ist - wie bei Alexandre und Mai: Er ist Plantagenbesitzer und sie eine Widerstandskämpferin, die den Auftrag hat, sich bei ihm einzuschleichen, um Kautschukbäume zu retten und ihm nachhaltig zu schaden. Ihre gemeinsame Tochter Tâm wird nach einem Bombenanschlag als einzige von ihrer Amme gerettet. Sie gehen nach My Lai, als es dort noch friedlich ist. Bis zum Massaker der amerikanischen GI's:
„Tâm war abends als Kind eingeschlafen und morgens ohne Familie aufgewacht. Statt Lachen hörte sie nur das Schweigen jener, denen die Zunge herausgeschnitten worden war. Und beim Anblick der skalpierten Schädel hatten sich ihre langen Mädchenzöpfe binnen vier Stunden aufgelöst."
Dem Leben eine Chance
Kim Thúy verschont die Leser nicht mit schockierenden Einzelheiten aus einem Krieg, in dem Soldaten zu Kriegsmaschinen wurden und um sich schossen, weil sie glaubten, unter langen Kitteln und in Gemüsekörben würden Waffen transportiert. Tâm hat erneut Glück - einzig lebend unter Toten entdeckt sie von einem Hubschrauber aus ein amerikanischer Pilot und rettet sie.
„Der Pilot hatte dem Leben eine Chance gegeben. Auch seinem eigenen, das ihn nach dem Krieg, nach My Lai, nach Tâm erwartete, wenn er zu seinen Lieben heimkehrte."
Sie bleibt in einem Waisenhaus, bis sie wie so viele Vietnamesinnen „in einer der tausend Bars angestellt" wird, die in Saigon wie Pilze aus dem Boden schossen. „Con lai" heißen die Kinder dieser prostituierten Begegnungen, „Mischlingskind".
„So wurden die früher sehr homogenen Populationen Asiens diverser durch dunkelhäutige oder sommersprossige Kinder mit hellen oder krausen Haaren und runden Augen mit langen Wimpern, die fast immer ohne Vater und oft auch ohne Mutter aufwuchsen."
Wie Louis, der unter einem Tamarindenbaum gefunden und von einer Händlerin versorgt wurde. Später wird er als „früh erwachsenes Kind" auf der Straße leben, Schuhe putzen und eines Tages Emma-Jade finden. Als Baby, abgelegt unter einem Baum, wie einst er selbst.
Lebensfäden
In kurzen Erzählungen, knapp eine Seite lang, Momentaufnahmen, oft nur Skizzen, schildert Kim Thúy Lebensgeschichten und Schicksale, die bis nach Amerika und zurück nach Vietnam reichen. Sie verbindet diese „Lebensfäden" mit bekannten Fakten aus dem Krieg, beschreibt sachlich, kurz, schockierend, dann wieder sehr poetisch. Aber das Grauen versteckt sich nicht hinter Sprache. Sie erinnert auch an die vielen Helden und Heldinnen dieses Krieges, die Verletzte, halb Verhungerte oder Heimatlose aufnehmen oder bei der von den USA initiierten „Aktion Babylift" mithelfen, vietnamesische Waisenkinder auszufliegen, auf die in Amerika neue Eltern warten. Manchmal vergeblich, weil das Flugzeug abstürzt.
Ein außergewöhnliches und verstörendes Buch, das aus Fragmenten Schicksale zusammensetzt, Menschlichkeit und Glück neben Traumata und Schmerz stellt, Raum für Assoziationen läßt und dabei von einem zutiefst verletzten Land mit „der hübschen Taille in der Mitte" erzählt, das seine Einheit nur schwer gefunden hat.
„Diese vertraute alte Wunde ist so tief verborgen, dass sie bis über die Grenzen hinausreicht. Wenn Vietnamesen einander in Dakar, Paris, Warschau, New York, Montreal, Moskau oder Berlin begegnen, stellen sie sich immer noch nach den Koordinaten ihrer Herkunft vor: Norden oder Süden; pro- oder antiamerikanisch; vor oder nach 1954, vor oder nach 1975."
(Christiane Schwalbe)
Kim Thúy, *1968 in Saigon, floh als Zehnjährige mit ihrer Familie als boat people nach Kanada, arbeitete als Dolmetscherin und Rechtsanwältin, war Moderatorin für Radio und Fernsehen, lebt in Montreal
Kim Thúy „Grosser Bruder, kleine Schwester"
aus dem Französischen von Brigitte Große
Roman, Verlag Antje Kunstmann 2021, 155 Seiten, 20 Euro
eBook 15,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Kim Thúy
"Das Geheimnis der Vietnamesischen Küche", Kochbuch
"Die vielen Namen der Liebe"