Margriet de Moor
Von Vögeln und Menschen
Es beginnt wie ein ganz normaler Familienroman: Rinus kehrt nach der Nachtschicht zu Frau und Sohn zurück, die Gedanken noch bei der Plastiktüte auf der Flugbahn, die die Starterlaubnis zweier Maschinen kurzfristig verzögert hatte. Rinus kuschelt sich wohlig ins Bett, neben Marie Lina, seine heitere Frau, eine Krankenschwester, von deren "schwarzer Mitgift" er noch nichts weiß.
Traumreich für Vögel
Rinus Caspars ist ein Mann, der unerschütterliche Ruhe ausstrahlt und gern allein arbeitet Er ist Vogelvertreiber am Flughafen. Die freien Flächen ringsum laden Vögel ein, sich hier niederzulassen:
"Ein Traumreich für Vögel. Auf dem Polderflughafen mit seinen sechs Start- und Landebahnen in einer von Wassergräben und Äckern gesäumten Prärie ist die Anwesenheit des Menschen eine zu vernachlässigende Größe. Der Mensch sitzt in dem brüllenden Getöse, das aufsteigt oder sich senkt, je nachdem. Kein Vogel schert sich darum."
Es sei denn, er gerät in die Triebwerke, dann endet es für ihn in der Regel tödlich, aber es kann auch für Maschine und Passagiere eine brisante Situation entstehen.
Der Abgrund lauert
Margriet de Moor schreibt keine Romane über heile Familien, sie schreibt auch keine blutrünstigen Krimis. Und doch geht es hier gleich um zwei Morde. Aber sie bereitet uns sanft auf das Geschehen vor, beginnt, mit Rück- und Ausblicken langsam einzukreisen, was da für ein Abgrund lauert, der diese Familie aus der Bahn werfen wird. Wie schon einmal. Es ist viele Jahre her, da wurde Marie Linas Mutter Louise wegen Mordes verhaftet und eingesperrt - unschuldig zwar, aber doch gesteht sie die Tat: "Wie kriegt man einen Menschen um Gottes Willen soweit, einen Mord zu bekennen, den er nicht begangen hat?" Der Vorfall: Ein alter Mann wurde umgebracht und beraubt. Louise war seine Altenpflegerin, kam dreimal die Woche, um sein Zimmer im Seniorenheim sauber zu machen. Da lag es für die Polizei nahe, sie für die Täterin zu halten.
Warten auf Rache
Die Tochter war gerade erst neun, als der alte Mann ermordet wurde. Sie musste mit ansehen, wie ihre Mutter abgeführt wird. Die Polizisten machten gravierende Fehler, ermittelten oberflächlich. Im Herzen trägt die Tochter seitdem die Verzweiflung darüber, dass die Mutter sich schuldig bekannte - ein Trauma.
"Du bist die Rache. Du bist der böse Wille. Du bist aufgewachsen mit einem einzigartigen Hang zu gnadenloser Gewalt. Von klein auf war er bei Dir, du hast ihn gehätschelt, du hattest ihn bei dir beim Murmelspielen, beim Rollschuhlaufen, beim Radfahren, bei deinen Träumen im Schlaf."
Auch Marie Lina wandert ins Gefängnis, sie hat die wahre Täterin aufgespürt, in eine Baugrube gestoßen, vorsätzlich, und die Mutter gerächt.
Schicht für Schicht
Es geht – wie so oft in de Moors Romanen – um Liebe in all ihren vielfältigen Ausprägungen. Mit feinen, subtilen Strichen zeichnet sie menschliche Beziehungen. Schrittweise folgen wir der Autorin in die Vergangenheit, die sie Schicht für Schicht freilegt, zurück zu Mord, Verhaftung, Verhören, Verurteilung. De Moor entschlüsselt biografische Hintergründe und ertastet psychische Verletzungen, fügt wie zufällig ein Puzzleteil ans andere, lässt große Lücken, um sie später mit notwendigen Details zu füllen, Teilchen für Teilchen zusammenzufügen zu einem großen Bild, unter dessen Oberfläche es brodelt. Ihr kühler, fast nüchterner Blick in die Seelen ihrer Protagonisten, mit dem sie auch tief versteckte Gefühle ans Licht holt, macht ihren Stil so einzigartig und raffiniert - auch in diesem Roman.
(Christiane Schwalbe)
Margriet de Moor *1941 in Noordwijk, studierte zunächst Klavier und Gesang, bevor sie erst 1984 den ersten Band mit Erzählungen veröffentlichte, sie lebt in Amsterdam
Margriet de Moor "Von Vögeln und Menschen"
"Van Vogels en Mensen" übersetzt von Helga Beuningen
Roman, Hanser 2018, 272 Seiten, 23 Euro
eBook 16,99 Euro
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"Schlaflose Nacht"
"Mélodie d'amour"