Sergej Lebedew
Das perfekte Gift
„Kalitin wusste, dass er nicht nur spezifische, in Ampullen verpackte Mordwaffen erzeugt hatte. Er hatte Angst erzeugt. Ihm gefiel der paradoxe, aber einleuchtende Gedanke, dass Angst das beste Gift ist.“
Verlogene Lehrsätze
Der Mordanschlag auf den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ist nicht der letzte Versuch, diese Angst zu schüren, und zum Beispiel in Weißrussland greift die umstrittene Regierung von Putins Gnaden auch zu gröberen und weithin sichtbaren Methoden der Einschüchterung. Sergej Lebedews Roman, der im Original vor dem Anschlag erschien, stellt die Erforschung und Produktion der unsichtbaren Gifte als Instrumente staatlichen Terrors ins Zentrum. Der Biochemiker Kalitin verließ Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, und sein annähernd perfektes Produkt, das er ‚Debütant‘ nennt, nahm er mit, ein Name der deutlich auf ‚Nowitschok‘, das Gift der letzten Anschläge russischen Geheimdiensts anspielt, das ‚Neuling‘ bedeutet. Lebedew spannt große Bögen, zurück in die Geschichte dieses Mannes, der schon als Kind ins totalitäre System eingebunden wurde, ebenso wie der Jäger, den man auf ihn ansetzt.
„Die Altväter. Helfershelfer der blutigen Zerstörung wissenschaftlicher Schulen, die mit Hinrichtungen und Exil endete. Komplizen von Morden, ausgelöst von Kritiken in Zeitungen. Kenner der tödlichen Polemik im marxistischen Wissenschaftsjargon,…Schöpfer der aus ideologischen Dogmen hervorgegangenen, verlogenen Lehrsätze, die, wie die Pest, ganze Zweige des Wissens vernichteten.“
Schattenwelt der Unterdrückung
Parallel dazu erzählt der Roman von der Jagd auf diesen Mann, der sich unter falschem Namen tarnt. Das Haus in Ostdeutschland, in dem er sich versteckt, bot als Quartier auf der ‚Rattenlinie‘ schon den Nazikriegsverbrechern Zuflucht, und Lebedew entwirft ein gewaltiges Panorama der Schattenwelt untergegangener und fortlebender Unterdrückungssysteme mit ihren geheimen Städten. Ihre perfiden Strategien schildert er wortgewaltig und nachdrücklich anhand einzelner Schicksale, - Kalitins und seines Verfolgers mit Nowitschok im Gepäck Scherschnjow, und vor allem auch des Pastors Trawniczek, der den Geflüchteten beobachtet und ebenso wie er „in erwartungsloser Erwartung“ auf die letzte Herausforderung eines blinden Schicksals wartet. Was Kalitin antreibt, ahnt er nur, während dieser sich als letzten Gefährten an seinen ‚Debütanten‘ klammert, denn das Gift der Ideologie totaler Machbarkeit hat sich früh schon seiner bemächtigt und auch nach seiner Flucht nicht verlassen, - ein Opfer ist er keineswegs.
„Der Tod hinterlässt immer Indizien, vielfältige natürliche Spuren, denen ein intelligenter Ermittler folgen wird; so funktionierten die Gesetze dieser Welt. Und die Gesetze zu umgehen, zu überlisten, es so einzurichten, dass sich der Tod unbemerkt nähert, hinter jede Hülle dringt, ohne eine Spur zu hinterlassen – das ist die höchste Kraft, die Fähigkeit, unmittelbar über das Sein zu gebieten.“
Gegen die Unfreiheit
Die Thrillerelemente, - Verfolgung und Flucht, Geheimnisse und menschliches Versagen auf dem Hintergrund der stalinistischen Geschichte der Sowjetunion und des Kalten Kriegs sorgen für große Spannung, aber Lebedews hellsichtiger Roman ist viel mehr: Eine Auseinandersetzung mit der Gewissenlosigkeit, die konstitutiv für Diktaturen ist, und mit der Angst, die als ‚bestes Gift‘ gegen alle eingesetzt wird, die sich gegen Unfreiheit zur Wehr setzen. Ein beunruhigend aktuelles Buch!
(Lore Kleinert)
Sergej Lebedew, *1981 in Moskau, russischer Journalist, lebt in Berlin
Sergej Lebedew „Das perfekte Gift“
aus dem Russischen von Franziska Zwerg
Roman, S. Fischer Verlag 2021, 255 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro