Stefan Hertmans
Die Fremde
Monieux, ein kleiner Ort in Südfrankreich, Stefan Hertmans' zweite Heimat. Monieux war Ende des 11. Jahrhunderts Schauplatz eines grauenhaften Massakers, als die ersten Kreuzritter die jüdische Gemeinde des Dorfes gnadenlos ermordeten. Einer jungen Frau - eine Christin, die zum Judentum konvertiert war - gelang die Flucht.
Keine Fiktion
Diese Frau lässt den Schriftsteller nicht mehr los und er begibt sich auf Spurensuche. Es ist keine fiktive Figur, denn es existiert ein Dokument, ein Brief, der dieser Frau mitgegeben wurde, damit sie unterwegs Hilfe und Unterstützung findet:
"Das einzige Zeugnis ihrer Existenz befindet sich in der weltberühmten Handschriftensammlung der Universität von Cambridge, die unter dem Namen Cairo Genizah Collection bekannt ist. Es besteht aus einem fast tausend Jahre alten Dokument in hebräischer Sprache, das ich nach einer wahren Odyssee schließlich in Händen halten werde."
Mit gesenktem Blick
Vigdis, "Göttin des Kampfes", nennt Hertmans die junge Frau; später, als Jüdin, wird sie Hamutal heißen. Geboren wurde sie als Tochter eines wohlhabenden Normannen in Rouen. Schön anzusehen, blond, blauäugig, in kostbare Gewänder gehüllt, gebildet und elegant. Eine gute Partie.
"Nach ihrem zehnten Geburtstag wird Vigdis' Handlungsspielraum eingeschränkt. Von nun an muss sie schweigen, wenn sie nicht ausdrücklich zum Sprechen aufgefordert wird. Sie soll außerhalb des Hauses stets den Blick senken … und mit kleinen Schritten gehen."
Aber Vigdis lässt sich nicht zähmen:
"Sie ist jung, sie will frei sein, sehnt sich nach einer anderen Welt als der engen, bürgerlichen Welt ihrer Eltern und der arrangierten Heirat, die sie erwartet."
Quer durch Frankreich
Als sie 17 ist, begegnet sie David, dem Sohn eines Rabbiners. Die beiden verlieben sich, wissen um die Unmöglichkeit einer Verbindung und fliehen nach Narbonne.
"900 Kilometer quer durch das damalige Frankreich … eine Waghalsigkeit zweier jenseits aller Vernunft handelnder junger Leute, die genau wussten, dass ihnen der Vater Reiter hinterherjagen würde … Das Leben der beiden ist in dem Moment keinen Pfifferling wert …"
Meist zu Fuß, zwischendurch mit Pferd und Wagen oder mit einem Maulesel sind sie unterwegs, allen nur denkbaren Gefahren ausgeliefert, verfolgt vom Vater, überfallen von Wegelagerern, ausgeraubt, vergewaltigt, verletzt, Wind und Wetter hilflos ausgesetzt, wenn nicht gerade ein freundlicher Bauer ihnen hilft oder sie eine jüdische Gemeinde finden, in der sie ausruhen können. Mit nahezu übermenschlicher Anstrengung schaffen sie es bis Monieux. Hier lassen sie sich nieder und Vigdis-Hamutal bekommt drei Kinder.
Kampf ums Überleben
Die Spurensuche beginnt in Rouen, dem Geburtsort der jungen Frau, und Hertmans rekonstruiert akribisch ihren Weg über Marseille und Palermo bis nach Ägypten. Dem Scheiterhaufen nur knapp entronnen, schlägt sich Vigdis nach dem Pogrom nach Ägypten durch, auf der Suche nach ihren von den Kreuzrittern verschleppten Kindern.
Hertmans spart nicht mit drastischen Darstellungen, beschreibt Hunger und Elend, Verfolgung, Mord und Totschlag in grausigen Einzelheiten, den ewigen Hass gegen die Juden und wiederkehrende (dokumentierte) Pogrome, brutale Übergriffe und Gräueltaten während des ersten Kreuzzuges, dem "Heiligen Krieg", zu dem Papst Urban II aufgerufen hat. Aber er schafft auch lebendige Bilder und Kulissen vom Leben im Mittelalter, von jüdischem Brauchtum, das sich in Ägypten mit orientalischer Lebensart mischt, von Städten und Landschaften. Er erzählt faszinierend von Glaube und Hoffnung und religiöser Geborgenheit, von der Vertrautheit in Familien und von der Kraft einer Frau, die eigentlich immer nur ums Überleben kämpft.
Stationen der Flucht
Er besucht Orte und Landschaften, findet überall Zeugnisse längst vergessenen jüdischen Lebens und Spuren, die Rückschlüsse auf den Leidensweg von Vigdis möglich machen. Er beschreibt ihre tragischen Erlebnisse lebhaft und vorstellbar, muss sich immer wieder Besiedlung und Bebauung wegdenken, um sich in Gedanken möglichst nah an die damalige Umgebung heranzutasten, sich dünn besiedelten Orte, karge Landschaften, düstere Herbergen und finstere Schiffe vorzustellen, die Stationen ihrer Flucht wurden. So entsteht ein farbiges, lebendiges Bild der Flucht dieser mutigen und verzweifelten Frau, die sich gegen alle Konventionen verhält, überall eine Fremde bleibt und in ein ruheloses Leben voll tragischer Erlebnisse stürzt, das sie schließlich in Wahn und Tod treibt.
Eine beeindruckende und fesselnd erzählte Geschichte, rekonstruiert nach Fakten und historischen Dokumenten, zwischen Realität und Fiktion schwebend, dramatisch, spannend, literarisch außergewöhnlich - mit erschreckend aktuellen Bezügen auf das Drama eines Lebens auf der Flucht.
(Christiane Schwalbe)
Stefan Hertmans "Die Fremde"
"De bekeerlinge" übersetzt aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
Hanser Berlin 2017, 304 Seiten, 23,- Euro
eBook 16,99 Euro
Weitere Buchtipps zu Stefan Hertmans
"Der Aufgang"
"Der Himmel meines Großvaters"