Karl-Markus Gauß
Schiff aus Stein: Orte und Träume
Beginnend mit der Entdeckung zweier außergewöhnlich großer und auffallender Nasen in einem Wagen der Berliner S-Bahnlinie 7, bewegen wir uns mit dem Autor durch seine Welt der Beobachtungen, Entdeckungen, Skizzen seiner Träume, Erinnerungsbilder.
Literarische Kostbarkeiten
Eine hochkonzentrierte und dennoch leichtfüßige Melange bezaubernder Texte, scheinbar wahllos ausgewählt, doch in einen „für mich geheimen Zusammenhang“ angeordnet, dem wir spielerisch nachspüren können, doch notwendig ist das nicht. In einer gemeinsamen Lesung mit einem berühmten Schriftsteller, der die „Schönheit in Ewigkeitsmomenten von kristalliner Klarheit zu bannen sucht“, schärft sich der Blick auf die eigene schriftstellerische Arbeit, wie sie sich in all seinen Büchern zeigte:
„Mich treibt es umgekehrt dazu, das scheinbar wie für ewig festgefügte Bild eines Ortes, einer Gesellschaft wieder in seinen historischen Zusammenhängen zu zeigen, kurz: ihm die Geschichte und Geschichtswürdigkeit zurückzuerstatten.“
In Sibenik, einer anmutigen Küstenstadt an der dalmatischen Küste etwa werden aus drei geplanten Aufenthaltsstunden drei Tage, wir nehmen an einem Hochzeitszeremoniell teil, kehren aus der verwinkelten Welt der kleinen Gassen immer wieder zurück zum stahlendweißen Mittelpunkt, der Kathedrale, wo Gauß die 71 Fratzen entdeckt, die die in drei Metern Höhe die dreischiffige Basilika umranden.
Asketen und Genießer
Vorbilder hat der Künstler vor Hunderten von Jahren offenbar in den Straßenszenen, den Geschäften, Gasthäusern und Märkten gefunden, „mancher blickt feindselig, der nächste ratlos, Asketen sind darunter und Genießer, Gesichter, aus denen die Klugheit zu sprechen, Gesichter, aus denen uns die Dummheit anzuspringen scheint“, und für einen Augenblick sind Gegenwart und Vergangenheit eins. Dieses feine Gefühl für die Durchlässigkeit von Zeiten und Orten verbindet die Miniaturen, ebenso wie der Wert der Bücher, die Bedeutung des Lesens. Schon dem Sechzehnjährigen, der von großen Reisen durch Europa träumte, öffnete sich die Tür in eine andere Zeit, als er Anna Karenina in erleuchtete Ballsäle prächtiger Palais und auf lange Schlittenfahrten durch Winternächte folgte.
„Was ich damals nicht wusste, aber gespürt haben musste, das ist die einfache und rätselhafte Tatsache, dass wir uns in der Kunst nicht nur mit dem Ähnlichen identifizieren können, sondern auch mit dem ganz und gar Fremden, Anderen.“
Späte Abenteuer
Gauß erinnert sich an den jungen Studenten, der in seinem Notizbuch festhielt, was er von sich verlangte - „Bücher zu schreiben, in denen es um Gott und die Welt und alles Übrige gehen sollte“. Das Schreiben und Lesen, dem das Reisen und Entdecken des Schriftstellers folgte, der seinen Träumen treu blieb, verschmilzt in diesen kleinen literarischen Kostbarkeiten ganz mühelos. Obwohl er die Mühen des Älterwerdens, Nahtoderfahrungen in der Nacht, Schwindelattacken, die ihn aus dem Bett kippten, nicht ausspart. Allerdings begibt er sich dann auf die Entdeckung seines Innenohrs, ein weiteres Abenteuer der späten Jahre, ebenso poetisch und genau erfasst wie die Erinnerungen an die Reisen der früheren Jahre. Ein wunderbares Geschenk zum 70.Geburtstag von Karl-Markus Gauß, und ein Geschenk für seine Leser und Leserinnen!
(Lore Kleinert)
Karl-Markus Gauß, *1954 in Salzburg, vielfach ausgezeichneter Autor, 1991 bis 2022 Herausgeber der Zeitschrift "Literatur und Kritik", lebt in Salzburg
Karl-Markus Gauß „Schiff aus Stein: Orte und Träume“
Paul Zsolnay Verlag 2024, 143 Seiten, 23 Euro