Natalie Amiri
Afghanistan - Unbesiegter Verlierer
100 Tage nach der Machtübernahme durch die islamistischen Taliban reist die Journalistin Natalie Amiri in ein Land, das nach dem Abzug der westlichen Truppen in die Vergangenheit zurückkatapultiert wurde.
Ohne Hoffnung
In ihre Koffer hat sie warme Kleidung gepackt, die dort verteilt werden soll. Immer mehr Menschen haben nichts mehr zu essen, eine humanitäre Katastrophe ist unvermeidlich. Eine Frauenaktivistin schreibt ihr verzweifelt:
„In Afghanistan gibt es im Moment nichts: Keine Redefreiheit, keine Demokratie, keine Menschenrechte, keinen Respekt, kein Leben. Die Wirtschaft ist ruiniert. Das Leben der Menschen ist so schwierig geworden. Keiner hat mehr Hoffnung. ... Das Leben steht still, Menschen haben aufgehört zu lachen, niemand weiß, wie es morgen weitergeht."
70 Prozent aller Afghaninnen und Afghanen, so Amiri, sind schwerst traumatisiert in einem Land, das jahrzehntelang Krieg und Gewalt erlebt hat. Die Journalistin spricht mit AktivistInnen, ehemaligen MitarbeiterInnen von Ministerien und Hilfsorganisationen, vor allem aber mit den Menschen. Sie konstatiert: „Wir haben einen der korruptesten Staaten der Welt gezüchtet."
Netzwerk der Korruption
Ein ehemaliger Angestellter der Antkorruptionsbehörde bestätigt anhand zahlreicher Beispiele, wie sehr Korruption sämtliche Lebensbereiche durchdrungen hat:
„Die Korruption in Afghanistan ist ein Netzwerk, ein Staat innerhalb des Staates Viele Afghanistan-Experten sind der Meinung, dass Korruption sogar ein Stilmittel der Staatsführung war. Korruption wurde Teil der Kultur Afghanistans. Wer in Afghanistan nicht korrupt war, galt als konservativ, ängstlich und dumm, als jemand, der die Gelegenheit nicht nutzte."
Ein anderer Gesprächspartner sagt, dass alle Beamten, egal in welcher Behörde, mitgemacht haben.„Wieso haben sie sich nicht aufgelehnt. Entweder bist du Teil davon oder du kündigst." Das Bildungsministerium beispielsweise zahlte Gehälter an Angestellte und Lehrkräfte, die gar nicht existierten, an „fiktive Personen", die gekündigt hatten oder geflohen waren. Geld ist, so Amiris Recherchen, praktisch ohne Kontrolle nach Afghanistan geflossen, es war genug da, selbst wenn die Projekte nicht nachhaltig waren.
„Es waren einfach so umfangreiche Mittel für Afghanistan vorgesehen, dass deren Koordination zu einem echten Problem wurde. Es wurden Projekte doppelt und dreifach finanziert ...Man dachte, mit viel Geld geht das, Demokratie, 'Nation Building', Aufbau. Es flossen Unsummen nach Kabul."
Was unter dem Stichwort „Nation Building" versucht wurde, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Demokratie und nationales Bewusstein lassen sich nicht einfach verordnen, erst recht nicht in einem Vielvölkerstaat, der aus Dutzenden verschiedener Ethnien besteht, die keine gemeinsame „kulturelle Identität" bilden.
Frauen verschwinden
Seit im August 2021 die westlichen Truppen Hals über Kopf abgezogen wurden, fühlen sich die Menschen in Afghanistan im Stich gelassen. Die „inklusive Regierung", die die Taliban zu Beginn versprochen hatten, also auch Frauen und andere ethnische Gruppen einzubinden, war nur ein medienwirksames Statement. Im Gespräch mit Amiri antwortet ein Mitglied der neuen Taliban-Regierung, dass Mädchen bald wieder in die Schule gehen dürften, aber generell müssten sich die Gesetze in Afghanistan auf der Scharia gründen. Eine Scharia nach Art der Taliban, die – so Natalie Amiri in der Sendung „Markus Lanz" - der afghanischen Gesellschaft den „Paschtunwali" aufzwingt, einen extrem patriarchalischen Rechts- und Ehrenkodex. Bildung für Mädchen gehört nicht dazu. Von einer Afghanistan-Expertin hört sie:
„Täglich erzählen mir Afghaninnen und Afghanen, wie Menschen, die westliche Kleidung tragen, verprügelt werden. Bärte müssen jetzt lang sein, Musikinstrumente werden zerstört, Hochzeitsgesellschaften gestürmt, Frauenstimmen im Radio verboten. Und Schauspielerinnen dürfen nicht mehr auftreten."
Amiri war auch in der Provinz unterwegs, dort sind kaum noch Frauen auf den Straßen zu sehen. Die Burka ist inzwischen Pflicht. Frauen sind "Reizfiguren", sie sollen aus der Öffentlichkeit verschwinden. Für sie gibt es nach 20 Jahren buchstäblich keinen Raum mehr.
Der Preis der Freiheit
Faktenreich, detailliert und schockierend entlarvt Amiri falsche Strategien, zeigt Fehler auf, beschreibt die katastrophalen Folgen des überhasteten Truppenabzugs. Die Menschen leiden unter Hunger und Armut, haben unter den Taliban, die "nie weg waren" Arbeit und Lohn verloren. Gewidmet hat sie ihr Buch den afghanischen Frauen, die jetzt den Preis für ihre verlorene Freiheit zahlen.
„Als wir über Afghanistan fliegen, denke ich mir, dass sich der Westen bei der afghanischen Bevölkerung nicht dafür entschuldigen muss, wie dilettantisch er das Land verlassen hat, sondern dafür, welches Versprechen er ihr gegeben hat; ein Versprechen, das er nie hat erfüllen können: das Land in eine Demokratie zu führen."
(Christiane Schwalbe)
Natalie Amiri, *1978 in München, deutsch-iranische Eltern, Studium in Teheran und Damaskus, die Journalistin war Leiterin des ARD-Studios in Teheran
Natalie Amiri „Afghanistan"
Unbesiegter Verlierer
Aufbau Verlag 2022, 255 Seiten, 22 Euro
eBook 16,99 Euro