Helga Schubert
Der heutige Tag
Ein Stundenbuch der Liebe
Eigentlich wollte sie nach dem Abitur schnellstmöglichst in den Westen gehen, aber die Begegnung mit einem damaligen Uni-Assistenten und späteren Professor, bei dem sie Psychologie studierte, machte ihr einen Strich durch die Rechnung. „Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute."
Sahnejoghurt im Schatten
Derden (steht für „der, den ich so liebe") ist 96 Jahre alt, pflegebedürftig und dement. Helga Schubert, die 83jährige Ich-Erzählerin, hat ihn aus dem Hospiz wieder mit nach Hause genommen und pflegt ihn, klaglos und liebevoll. „An ihrer Stelle würde ich ihrem Mann einfach ein paar Tropfen Morphium mehr geben, das ist doch kein Leben mehr für ihn." rät ihr ein Arzt und ähnlich klingt eine Ärztin, die ihr von den hohen Dosen Kalium abrät, weil es sein Leben verlängere.
„Was für eine Anmaßung gegenüber der Schöpfung, dachte ich. Als ob ich Herrin darüber sein dürfte. Ein bisschen Sahnejoghurt im Schatten, eine Amsel singt, Stille. So darf ein Leben doch ausatmen."
Sie achtet darauf, dass ihr bettlägeriger Ehemann Johannes Helm seine 20 Tabletten pro Tag nimmt, leert den Blasenkatheter, hilft ihm beim Aufstehen und in den Rollstuhl, schiebt ihn zum gedeckten Frühstückstisch. Er erkennt sie nicht immer und manchmal dauert es eine Weile, bis er sie nicht mehr für die andere hält, „die oft wegfährt und Bücher schreibt und daraus vorliest."
Weihnachten im Februar
Als er sie eines Morgens mit „Frohe Weihnachten" begrüßt und sie ihn darauf hinweist, dass bereits der 18. Februar und Weihnachten längst vorbei ist, wird er traurig, fragt nach den Kindern, die doch gleich kommen müssten. Sie entscheidet sich für seine Realität, statt für einen Kampf gegen Windmühlen. Das fällt gerade ihr schwer, die ein Leben lang versucht hat, „andere Menschen von meinen Ansichten zu überzeugen...” Aber ihren Mann kann sie weder überzeugen noch ändern, kann ihn trotz Babyphone auch nicht immer beschützen, wenn er sich selbständig aus seinem Bett und in den Rollstuhl quält, weil er meint, irgendetwas erledigen zu müssen, aus dem Haus rollt und schwer stürzt. Helga Schubert erzählt das nicht klagend oder gar anklagend. Nur manchmal, da packt sie auch die Verzweiflung, die Traurigkeit, die Erinnerung:
„Wie schön wäre jetzt ein Spaziergang im Sand an der Nordsee oder im Halbschatten, wenn die Linden duften, oder im Botanischen Garten, ach, alles nicht mehr möglich, denke ich dann, kann meine Fantasie ausreichen, wenigstens in der Erinnerung all das zu wiederholen?"
Erfüllte Jahre
Die Erinnerung ist es, die sie so vieles ertragen läßt: An die erfüllten gemeinsamen Jahre, an ihre Arbeit, an tiefe Liebe und Vertrauen und an die Zeit, in der er über 1300 Ölbilder malte, später auch zu schreiben begann. Immer wieder gibt es zutiefst berührende Szenen, in denen sich ein unverbrüchliches Gefühl der Zusammengehörigkeit abbildet – wenn sie darüber nachdenkt, eines Tages ganz ohne ihn in der Einsamkeit ihres Hauses in Mecklenburg zu sitzen und zu weinen beginnt und er das nicht möchte und sie sich an den Händen halten und er sagt:
„Mein Daumen trifft deinen kleinen Finger, wir gehören zusammen, schon immer, seit ich deine violetten Strümpfe sah.... oder: „Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant".
Die Freuden des Lebens sind klein geworden, aber es gibt sie. Und wenn es lt. Etikett „nur" ein Glas Champignons ist, irgendwann von Freunden als Geschenk mitgebracht, dessen Inhalt sich als etwas gänzlich anderes, sehr Köstliches und Tröstliches entpuppt: Quittengelee.
Frieden schließen
Helga Schuberts „Stundenbuch der Liebe” ist die realistische Schilderung eines schweren Pflegealltags, in dem immer wieder heitere, fast komische Momente aufblühen, in dem sie ohne schlechtes Gewissen auch sich selbst wahrzunehmen lernt und noch „richtige Lebensaufgaben” lösen muss:
„Es geht nämlich um das Loslassen,
das Annehmen,
es geht um das Friedenschließen,
das Einverstandensein,
um das nicht dauernd den anderen, sich und das Leben Ändernwollen.”
Ein poetisches und ein tröstliches Buch.
(Christiane Schwalbe)
Helga Schubert, *1940 in Berlin, Psychotherapeutin und freie Schriftstellerin in der DDR, lebt in der Künstlerkolonie Drispeth bei Schwerin
Helga Schubert "Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe"
dtv 2023, 272 Seiten, 24 Euro
eBook 19,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Helga Schubert
"Vom Aufstehen" - Ein Leben in Geschichten