Angelika Klüssendorf
„Risse"
Longlist Deutscher Buchpreis 2023
„Mein Vater wurde der schöne Egon genannt. Meine Mutter hatte ihm regelrecht nachgestellt, ihn wollte sie haben und keinen anderen. Sie bekam mich, ihre Tochter, da war sie siebzehn, mein Vater war zehn Jahre älter ... die ersten Jahre wuchs ich bei meiner Großmutter auf ..."
Freude am Quälen
Klüssendorf erzählt von einer Kindheit in der DDR in den 1960er und -70er Jahren. Eine Kindheit im Sozialismus, deren Werte zuhause nicht in Frage gestellt werden. Aber es ist ein Leben in Armut und emotionaler Trostlosigkeit, allein bei der Großmutter findet das Mädchen Liebe und Geborgenheit. Nach deren Tod ist sie den Eltern, deren Ehe zerrüttet ist, hilflos ausgeliefert. Ihre Mutter handelt sadistisch und übergriffig, ihr Vater ist Alkoholiker, der sogar heimlich die verschlossenen Schränke seiner Frau plündert, um neue Kleidung zu Geld zu machen. Kaum ist das Mädchen alt genug, reißt es aus, lernt im Kinderheim, dem Staat der Arbeiter und Bauern zu danken und die zehn Grundsätze der sozialistischen Moral zu beherzigen, das Konterfei des Staatsratsvorsitzenden immer vor Augen. Mit der Flucht aus dem Elternhaus lernt die Tochter aber auch etwas anderes:
„Ich war einer Mutter davongelaufen, die Freude am Quälen hatte ... Dieses Ausreißen ... hat mir in der Kindheit geholfen, den Ort des Schreckens zu verlassen, mich nicht auszuliefern, kein Opfer zu werden. Es hat mich wunderbare Welten entdecken lassen, ich schlief im Wald, begann, anders zu sehen, zu riechen und zu schmecken. Glücksgefühle, Gegenwart. Es hat mir Angst genommen."
Wie das Lesen, in Büchern hatte sie stets Trost gefunden, konnte dem unerträglichen Alltag entfliehen, sich in ein schöneres Leben träumen.
In letzter Minute
Zuhause wird sie herumgeschubst, beschimpft, mißhandelt von der Mutter, einer Frau mit „Messingaugen", die ihre Kinder nur dann wirklich wahrnimmt, wenn es darum geht, ihr den Kopf zu kratzen. Die Tochter schickt sie mit einer langen Einkaufsliste los, wissend, dass das Geld nicht reicht und sie schon mal was hat mitgehen lassen. Die kleine Schwester aber wird brutal gequält, weil sie ihr angeblich 50 Pfennig gestohlen hat. Den Vater interessiert das alles nicht, er ist ständig betrunken:
„Mein Vater ... war ein genialer Hochstapler und Heiratsschwindler, er war ein Künstler, konnte Frauen verführen ... Mein Vater war ein Vergewaltiger. Diesen Satz zu schreiben ist mit einem Ekelgefühl verbunden. Heiratsschwindler klingt soviel besser. ... Ich war eine Zeugin."
Jedes Jahr an den Ostertagen unternimmt er Selbstmordversuche, inszeniert sie nahezu theatralisch – und wird stets in letzter Minute gefunden. Nur beim letzten Mal, als er auch seine Tochter ermutigt, vom Goldbrand zu trinken, mit dem er sich üblicherweise in alkoholisierte Bewußtlosigkeit versetzt, und sie sich mit ihm vor den Gasherd setzt, klappt der Selbstmord. Die Tochter wacht im Krankenhaus auf, die Mutter hatte sie rechtzeitig gefunden.
Unglück weitergeben
Angelika Klüssendorf hat in ihrer vor zwanzig Jahren erschienenen Trilogie über „Das Mädchen" verarbeitet, wie sie diese Gefühllosigkeit überlebt hat, wie sie mit Scham und Schuldgefühlen fertig geworden ist. Dreißig Jahre lang, so sagt sie in einem Interview, habe sie keinen Kontakt zur Mutter gehabt. „Risse" entstand nach ihrem Tod.
„Ich habe meine Mutter wieder und wieder sterben lassen," schreibt die Autorin zu Beginn, erst nach ihrem wirklichen Tod habe sie sich befreit genug gefühlt, wieder darüber zu schreiben. Sie nennt es eine „schmerzhafte Selbstbefragung", denn
„Es gibt keine Wunden, die nicht verheilt wären, doch es gibt Leerstellen, die ich bis heute nicht zu betreten wagte."
Und so ist „Risse" denn eine Fortsetzung ihrer erfolgreichen, autofiktionalen Romantrilogie, in der sie ihre Geschichten kommentiert und auch den Vorwurf der Mutter überprüft, die nach der Lektüre eines ihrer Bücher meinte, sie habe „schon immer gelogen". In „Risse" wird schmerzhaft spürbar, wie sehr die eigene Kindheitsgeschichte eine lebenslange Last bedeutet:
„Ich konnte mich an keine Zeit erinnern, in der meine Mutter glücklich gewesen war; sie war keine Frau, die Unglück ertragen oder gar mit sich ausmachen konnte. Sie musste es weitergeben."
(Christiane Schwalbe)
Angelika Klüssendorf, *1958 in Ahrensburg/Schleswig-Holstein, aufgewachsen in Leipzig, Autorin von Erzählungen und Romanen, lebt in Mecklenburg
Angelika Klüssendorf „Risse"
Roman, Piper-Verlag 2023, 176 Seiten, 22 Euro
eBook 18,99 Euro
Weiterer Buchtipp zu Angelika Klüssendorf
"Jahre später"