Anne Rabe
Die Möglichkeit von Glück
Shortlist Deutscher Buchpreis 2023
Am „Tag der Republik" läuft sie an der Hand der Mutter durch die Kleinstadt an der Ostsee, in der sie 1986 geboren wird. Überall sieht sie Fahnen mit Hammer und Zirkel im Ährenkranz: „Leben wir in Deutschland?" frage ich Mutter und sie sah mich streng an und korrigierte, „nein, wir leben in der DDR. So als hätte ich etwas furchtbar Dämliches, Verkehrtes, etwas aus der Kategorie 'Ich-geb-dir-gleich-ne-Kopfnuss'-Falsches gefragt."
Zwischen Diktatur und Demokratie
Das Leben in der DDR hat Stine nicht mehr wirklich erlebt. Sie ist aufgewachsen in einer Zeit des Umbruchs, als es darum ging, wieder ein einiges Land zu werden. Mutter und Vater hatten als Parteimitglieder in der DDR Privilegien - Studium, Beruf, feste Anstellungen. Das erleichterte auch ihren Start nach der Wende. Aber „Ich schäme mich dafür. Immer noch." Sich schämen, sich nicht zugehörig zu fühlen, irgendwie falsch zu sein – das empfindet Stine seit ihrer Kindheit und Jugend. Irgendwann wird das Gefühl übermächtig, und sie macht sich auf Spurensuche.
„Ich möchte es verstehen, möchte alles wissen. Wo kommen wir her? Wo kommt diese Familie her ... Ich würde gern das Knäuel der Familiengeschichte entzerren, geduldig, Knoten für Knoten, es neu aufwickeln und irgendwann am Ende des Fadens anlangen.”
Denn in dieser Familie wurde und wird geschwiegen, verdrängt - egal, ob Nazizeit oder DDR.
Nur nicht weinen
Stine sucht einen roten Faden in diesem Familienknäuel, aber ihn zu finden ist nahezu unmöglich. Warum war Oma Eva so ein fröhlich-freches junges Mädchen auf den Fotos und später eine so strenge Frau, die im Alter kaum noch allein vor die Tür ging? Wer war ihr geliebter Opa Paul wirklich, der „Nie wieder Faschismus" schwor, der DDR stets treu ergeben war, den Schießbefehl befürwortet hat und doch nie wirklich Karriere machte im Arbeiter- und Bauernstaat? Und wie läßt sich die unglaubliche Brutalität ihrer Mutter erklären, die als Erzieherin arbeitete? Kopfnüsse und Ohrfeigen gehören zu Stines Alltag. Aber dabei bleibt es nicht: „Mutter schlug. Fester. Weil ich nicht weinte. Sie schlug fester und fester. Irgendwann musste sich dieses Kind doch ergeben. Mutter schlug, bis sie nicht mehr konnte." Sie schickt ihre Kinder grundsätzlich in eine Badewanne mit viel zu heißem Wasser, das härte ab, meint sie. Als es eines Tages fast kochend heiß ist, sodass Stine und ihr kleiner Bruder sich verbrühen, steht sie seelenruhig in der Küche:
"Lange hast du geglaubt, dass es ein Versehen gewesen ist. Aber dann ist dir eingefallen, dass Mutter nur etwa sechs oder sieben Schritte von euch entfernt war. ...Sie hat euer Weinen gehört. Eure Rufe. Aber sie ist nicht gekommen."
Flucht nach Berlin
Kaum hat Stine das Abitur, haut sie ab aus der Kleinstadt an der Ostsee, geht nach Berlin, heiratet, bekommt Kinder, läßt die Vergangenheit hinter sich – scheinbar. Denn die läßt sich nicht abschütteln. Sie beginnt zu recherchieren, fragt nach bei der Stasiunterlagenbehörde, im Bundesarchiv, bei Hochschulen. Sie studiert Fotoalben und Korrespondenzen, bekommt nur schwer und nie endgültige Gewissheit. Ihre Erkenntnisse aus Fakten, Dokumenten und Studien mischen sich mit Vermutungen, Hoffnung, Verzweiflung - und Wut, wenn Träume, Ängste und Erinnerungen an die Kindheit wieder einmal übermächtig werden:
„Manchmal drohe ich zu verschwinden. Hinter den Geschichten der anderen, hinter den Dokumenten, hinter den Büchern, die sich wie eine Mauer auftürmen."
Die Grenzen zwischen Erinnerung und Fiktion verschwimmen. Stine recherchiert ihre Familiengeschichte, aber auch die Geschichte von öffentlicher Gewalt und wachsender Radikalität. Auf den Spielplätzen musste man sich vor Jugendlichen und vor Nazis hüten, letztere erkannte man an schwarzen Springerstiefeln mit weißen Schnürsenkeln. Sie forscht über IM's und Bürgerbewegung, über den „Tag X” in der DDR und den „Vorbeugekomplex” gegen eine politische Krise im Land – dazu gehörten vor allem Isolations- und Arbeitshaft, die Listen Verdächtiger wurden ständig aktualisiert. Und sie fährt nach Wandlitz, wo einst die politische Elite der DDR lebte:
„Angesichts der Bescheidenheit der Verhältnisse in der Waldsiedlung Wandlitz, ließ sich da überhaupt von einer richtigen Diktatur sprechen?”
Anne Rabe verurteilt nicht, sie stellt Fragen, wechselt inhaltlich und stilistisch zwischen Fakten und Erinnerung, setzt Poesie gegen bittere Realität und analysiert die Familiengeschichte als Teil der DDR-Geschichte. Das ist schmerzhaft und berührend zu lesen – nicht als formal klassischer Roman, wohl aber als eine vielschichtige, intensive und radikale Suche nach der eigenen Vergangenheit zwischen Diktatur und Demokratie. Ein Buch, das nichts beschönigt, von schweren Kindheitstraumata erzählt, von Gewalt und ihrer Entstehung - schonungslos offen.
(Christiane Schwalbe)
Anne Rabe, *1986 in Wismar/Mecklenburg, Dramatikerin, Lyrikerin, Drehbuchautorin, lebt in Berlin
Anne Rabe "Die Möglichkeit von Glück"
Klett Cotta 2023, 384 Seiten, 24 Euro
eBook 18,99 Euro