Angelika Overath
Unschärfen der Liebe
Baran, ein „griechisch-türkischer Nobody mit Gastarbeiterhintergrund” ist auf dem Weg zu seinem Lebenspartner Cla und läßt eine Affäre hinter sich: mit Alva, die eigentlich Cla liebte, den Vater ihrer Tochter. Eine Dreiecksgeschichte mit ungewissem Ausgang. Er fährt mit dem Zug über den Balkan, von Chur in der Schweiz bis ins türkische Istanbul.
Fremdsein als Heimat
Dreißig Stunden im Zug - genug Zeit zum Nachdenken, sind ihm lieber als ein kurzer Flug:
"Zunehmend fühlte er sich fehl am Platz in den gläsernen Arealen der Flughäfen mit ihren numerierten und durch Buchstaben gekennzeichneten Gängen, den Laufbändern, die ihn wie Material beförderten. Ihn schwindelte in den Himmeln, in den Wolken, die über allen Ländern gleich aussahen. Er fürchtete diese tote Zeit, die ihn erinnerungslos machte. Wo war er, wenn er im Luftraum war? Ausgesetzt."
Die Gefühle zwischen Baran und Alva - unbeabsichtigt, fast zufällig, es gab danach keine Erklärungen, Verabredungen, Versprechungen. Aber die Gedanken folgen hartnäckig dem Doppelklopfen der Räder auf den Schienen, als sagten sie „vor-bei, vor-bei". Aber was ist vorbei? Die Affäre mit Alva oder die Partnerschaft mit Cla, der selbst nicht treu sein kann und immer wieder ausbricht? Vielleicht sind die Unterschiede doch zu groß zwischen Baran, der mit diversen Jobs sein Geld verdient, ein paar Semester Psychologie studiert hat, kellnert, Kinder hütet, Taxi fährt, die Texte griechischer Lyriker übersetzt, Projekte am Istanbuler Theater betreut und weiß: „Seine Heimat war das Fremdsein."
Vorbei, vorbei
Cla dagegen, „ein Schweizer Intellektueller, promovierter Akademiker", die sichere Stelle an einem Gymnasium für Baran aufgegeben. Er forscht über Kirche und Gott und arbeitet am Goethe-Institut in Istanbul,
„wo man froh war über den höflichen Theologen ... der mit griechischen und lateinischen Quellen umgehen konnte und ... aussah wie ein Türke.... Cla, der jahrelang Alva nicht geheiratet hatte, Cla, der Zögernde, gab seine Lebensstelle als Lehrer auf und kam zu ihm. Aus der reichen Schweiz in die Türkei, in der die Lira stürzte und die Menschen begannen, ihr Brot selbst zu backen, weil das billiger war, als es zu kaufen. Brotbacken war keine Mode alternativen Lebens, Brotbacken war Not."
Während der Fahrt vorbei an idyllischen Landschaften, zerklüfteten Bergen, breiten Flußbetten, Sonnenblumen- und Maisfeldern, wandern Barans Gedanken - zufällig und ungeordnet: zur Großmutter und ihren gebackenen Quitten, zum Bilderbuch über Konstantin den Großen, verwahrt in ihrer Küchentisch-Schublade; zu Alva, die keinen Ehemann wollte, aber ein Kind; zu den eigenen Eltern nach Düsseldorf, in die Werkswohnungen der Fabrikarbeiter, Mutter aus der Türkei, Vater aus Griechenland. Er beobachtet die Mitreisenden, erinnert sich an Geschichte und Geschichten oder hört ihnen zu - Krieg und Frieden, Kaiser und Kirchenfürsten, Glaube und Religion.
„Er sah hinaus, ohne etwas sehen zu wollen. Vorbei, vorbei, vorbei ... Eine Eisenbahn war ein Zuhause. Hier waren alle fremd und durften doch da sein, dabei sein, bleiben ... Er hatte von Menschen gelesen, die in Zügen lebten, weil das billiger war als Miete zu bezahlen."
Wie der Solothurner Schriftsteller, „der in den Zug stieg, wie in sein Büro."
Scheinbar ziellos
Angelika Overath verbindet europäische und kleinasiatische Geschichte in dieser Reise durch Raum, Zeit und Kulturen, darin eingebettet ein Dreiecksverhältnis, das unterschiedliche Möglichkeiten der Fortsetzung bietet. Sie erzählt ruhig, nahezu meditativ, poetisch in den Beschreibungen, historisch zwar recht überladen, aber dennoch fesselnd, weil im schnellen Wechsel der zurückliegenden Erinnerung schon die nächste Beobachtung aus dem Zugfenster folgt oder der Schaffner, der ganz real nach den Tickets fragt. Eine Reise, die manchmal fast ziellos scheint und doch auf geradem Weg an die Küste des Marmarameers führt, wo die Menschen täglich mit dem nächsten großen Erdbeben rechnen müssen ...
(Christiane Schwalbe)
Angelika Overath, *1957 in Karlsruhe, Reporterin, Literaturkritikerin und Dozentin, lebt in Graubünden/Schweiz
Angelika Overath "Unschärfen der Liebe"
Roman, Luchterhand Literaturverlag 2023, 224 Seiten, 22 Euro
Der Roman stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023