Iris Wolff
Lichtungen
Shortlist Deutscher Buchpreis 2024
Nur drei Worte stehen auf der Postkarte, mit der alles noch einmal beginnt: „Wann kommst du?” Es ist eine von vielen Postkarten aus ganz Europa, die Kato an Lev schickt. Die abenteuerlustige und neugierige Kato wollte die Welt kennenlernen, hat sich aus der Enge ihrer rumänischen Heimat befreit und ist losgefahren - auf dem Fahrrad und mit einem Freund. Lev ist geblieben.
Wie im Schaufenster
Er liebt die Sicherheit, die Ruhe und die Geborgenheit seiner Familie, zu der Rumänen, Deutsche und Österreicher gehören. Seine Welt ist geprägt von Gegensätzen - die siebenbürgisch-sächsische Mutter, der rumänische Vater, der österreichische Großvater, der sich eines Tages ohne Ausreisegenehmigung nach Wien absetzt. Und nun plötzlich diese direkte Frage, die so unerwartet kommt und ihn verunsichert:
„Er hatte den Satz wieder und wieder gelesen. War er über längere Zeit gereift oder aus einer Laune heraus geschrieben worden? Meinte sie damit die nähere oder unbestimmte Zukunft? Hieß der Satz, dass sie ihn vermisste oder ihn brauchte. Hieß 'kommen' besuchen oder bleiben?”
Sie treffen sich in Zürich, Kato ist Straßenmalerin, gerade fasziniert von Vermeer, dessen „Mädchen mit dem Perlenohrring” sie auf's Pflaster zaubert. Aber sie malt nicht nur, sie hört auch zu, läßt sich Geschichten aus dem Leben der Menschen erzählen, die ihr zuschauen. Sie verdient mit ihrer Straßenmalerei Geld, „so viel Geld, dass sie ein Konto eröffnet und einiges zurückgelegt hatte. .. Man lebe wie in einem Schaufenster.”
Gemeinsam gehen sie auf die Reise, quer durch Europa, bis Lev Sehnsucht bekommt nach zuhause. Und Kato sagt „Ich komme mit”. Die Zukunft der beiden bleibt offen.
Tiefe Freundschaft
Sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit, die in der Kindheit beginnt. Und zu der führt uns Iris Wolff rückwärts, Schritt für Schritt, sie beginnt mit Kapitel neun und endet bei eins. Das irritiert anfänglich, erweist sich aber zunehmend als raffinierte Konstruktion. Lev lag als Kind lange Zeit krank im Bett, seine Beine waren plötzlich gelähmt, als er Zeuge eines Unfalls wurde, der ihn traumatisiert hat. Den Schulstoff soll er nicht versäumen, also wird Kato zu ihm geschickt, ein kluges, aber unangepasstes Mädchen, eine Außenseiterin, die wunderbar zeichnen kann und ihm den Lernstoff ans Bett bringt. Ganz langsam entsteht zwischen den beiden eine tiefe Freundschaft, die viele Jahre überdauert – und für Lev längst mehr geworden ist. Weshalb er tieftraurig und enttäuscht zurück bleibt, als sie Rumänien verlässt, um Europa kennenzulernen. Bis er sich zu einem mutigen Entschluss durchringt, ihn treibt die Neugier:
„Wir wäre es, sich ebenfals ein Rad zu besorgen? Er würde sich frei nehmen, nicht nach Westen, sondern nach Süden fahren.
Nicht zu ihr hin, sondern von ihr weg.
Nicht hinaus aus diesem Land.
Hinein.
Er trinkt Wasser aus Brunnen, schläft in Scheunen, ernährt sich von Früchten, die er unterwegs pflücken kann, lernt Menschen und Landschaften kennen, alte Dörfer, verlassen oder nur noch wenig bewohnt. Man lädt ihn zum Essen und Übernachten ein, er wird überfallen und bestohlen und läßt sich dennoch nicht entmutigen. Er will ins Innere, in die Geschichte des Landes und in seine eigene:
„Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen. Man begegnete ihnen nur zufällig und wusste nie, was man darin fand. Die eindrücklichsten Momente, das, was sich nicht verlor, gehörte einem nie alleine. Die Angst gehörte einem alleine. Das Vergessen.”
Lev begegnet Erinnerungen, die sein Leben prägten. Der Unterricht am Krankenbett, die Zeit beim Militär und die gnadenlose Brutalität, wenn man sich widersetzte, die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl, die verharmlost wird, seine Liebe zum Wald und seine Arbeit im Sägewerk, sein Großvater, die fürsorgliche Mutter, der Tod des Vaters, den er nie erlebt hat, die lebenskluge Großmutter, die Schwester. Und Kato, seine Liebe zu ihr, ihre Sehnsucht nach Freiheit:
„Nichts hatten sie sich sehnlicher gewünscht, als die Öffnung der Grenzen, und als sie offen waren, wussten sie nicht, was mit dieser Offenheit zu tun war. Lev konnte sich nicht länger einreden, er würde mutig sein.”
Gehen oder bleiben
Iris Wolff führt Lev zurück in seine und die Vergangenheit des Landes, aus dem sie selbst stammt. Geboren ist sie in Siebenbürgen, wanderte 1985 mit ihrer Familie nach Deutschland aus. Da war sie acht Jahre alt. Sie bleibt dicht an den Personen, die sie mit liebevoller Genauigkeit beschreibt, in einer sanften, ebenso präzisen wie poetischen Sprache, eindringlich und vorsichtig zugleich, niemals sentimental oder anklagend. Sie bewahrt und schützt die Erfahrungen ihrer Familie, die Sehnsüchte nach Freiheit. Aber der Blick auf die kommunistische Vergangenheit und das Ceausescu-Regime drängt sich niemals in den Vordergrund. In den zwei Figuren Kato und Lev spiegeln sich Gegensätze und Hoffnungen, ihre Unvereinbarkeit und schließlich ihre erneute Annäherung – ein langsamer Entwicklungsprozeß:
„Die Auswanderung war unausweichlich. Wie eine Sucht. Jeder fürchtete, der Letzte zu sein. ... Gehst auch du? ...
Und mit jedem, der ging, wuchs der Gedanke, ebenfalls zu gehen. Und mit jedem, der blieb, festigte sich die Hoffnung, bleiben zu können.”
In „Lichtungen” kreuzen sich die zwei unterschiedlichen Lebenswege erneut – mit ungewissem Ausgang.
(Christiane Schwalbe)
Iris Wolff, *1977 in Hermannstadt/Siebenbürgen, Studium der Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik & Malerei in Marburg/Lahn; lebt als freie Autorin in Freiburg im Breisgau
Iris Wolff "Lichtungen"
Roman, Verlag Klett-Cotta 2024, 256 Seiten, 24 Euro
eBook 18,99 Euro, Multimedia-CD 14,90 Euro