Emine Sevgi Özdamar
Ein vom Schatten begrenzter Raum
Georg-Büchner-Preis und Longlist Deutscher Buchpreis 2022
„Über uns die Nacht hat aus den dunkelsten Ecken ihrer Erinnerungen etwas herausgeholt und dieses Etwas zwischen der Orthodoxkirche, dem Esel, der blinden Frau und mir in der Luft leise verteilt.“
Suche nach Heilung
Alles ist belebt in diesem großen Roman: Die Wände der Häuser und Kirchen, die Natur, die Tiere, alles spricht zur Ich-Erzählerin, die in den ‚dunkelsten Ecken ihrer Erinnerung‘ nach der Substanz ihres Lebens sucht und auf ihrem langen Weg neue Sprachen lernt und alles um sie herum zum Sprechen bringt. Ihr Weg führt die junge Schauspielerin Anfang der 70er Jahre zunächst nach Paris, wo sie mit dem Brechtschüler Benno Besson den „Kaukasischen Kreidekreis“ inszeniert. Ihre Sprache, ihre Wörter sind ihr unter der Militärdiktatur ‚krank‘ geworden, und in der Welt der Dichter und des Theaters sucht sie nach Heilung, spricht mit den Toten auf den Friedhöfen, entwirft Szenerien und Figurinen für Theater, in dieser „Pause der Hölle“, die die heiteren, phantasievollen Jahre für sie bedeuten. Der kulturelle Reichtum ihrer türkischen Heimat begleitet sie zuverlässig, denn sie hat die großen Schriftsteller und Dichterinnen selbst übersetzt und liebt das Land, in dem lange Zeit Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft zusammenlebten, Armenier, Griechen, Juden, Aleviten, Kurden.
Träume wecken
Brechts und Heines Verse treffen auf die Lieder Edith Piafs und die Gedichte Turgut Uyars und werden zu kleinen, leuchtenden Wegmarken für die Frau, die dann mit Wolfgang Langhoff und Claus Peymann am Bochumer Schauspielhaus arbeitet, ihr erstes Stück schreibt und mit großem Erfolg inszeniert.
„Wie viel Elegie, die an der Welt vorbeigegangen ist, wie viel Schmerz, alles werden wir fühlen (Turgut Uyar).“
Die Erkenntnis, dass man, einmal aus einem Land fortgegangen, in keinem neuen Land mehr ankommen kann, zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman und wird zugleich widerlegt. Heimat ist jetzt dort, wo es schön ist, wo Menschen sie lieben: "Ich wohne in den Schatten, die sich mit Leben erfüllen." Schatten und Träume erweckt die Schriftstellerin in wunderbar dramatischer Sprache zum Leben, und die Räume, die diese Schatten begrenzen, werden zur Bühne: Auf dem Papier tanzt das zweite Ich und teilt dem ersten Ich Geheimnisse mit, und die Träume werden befragt. Kann nur die Literatur sie festhalten, wie der Dichter Rimbaud es verlangte?
„Mein grenzenloses Herz! Leb Deinen Traum, trotz einsamer Nacht und brennender Tage“ – Sevgi Özdamar eröffnet mit Hilfe der Träume, der Schatten und der ganz handfesten Erfahrungen Assoziationsräume, die mit dem Begriff der ‚Migrantenliteratur‘, den sie ablehnt, nichts gemein haben. Das einzige Zuhause der Literatur sei die Welt, und mit Empörung lehnt sie es ab, in die ‚Türkenschublade‘ einsortiert zu werden. Die Warnung eines Moskitos gleich zu Beginn, sie würden in der Fremde zu einem Niemand schrumpfen, wird wunderbar widerlegt, und der Chor der Krähen, der sie mit Warnungen und Provokationen versorgt, bringt Trauer, Sehnsucht und Selbstzweifel zur Sprache, denen sich die Ich-Erzählerin auf ihrer Reise aussetzt, immer wieder.
Seiltanz der Wörter
Die Gegenwart bricht immer auch in den Roman, in die andere Zeit ein, die Terrorattentate auf Charlie Hebdo und Bataclan oder die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer, das Heute ist im Gestern. Im Erinnern erfindet die Autorin das Leben neu, indem sie Zeit und Raum aufhebt und neu zusammenfügt, zum Seiltanz der Wörter, die die Balance wahren müssen, um nicht abzustürzen. Als Reisen in die Türkei wieder möglich sind, verdüstert sich die Stimmung des Romans: ihre Freundin Tezer Özlu spricht es aus: „In diesem Land leben nicht wir, sondern die, die uns töten“. Bleibt nur noch, die Toten zum Sprechen zu bringen, auf der Bühne, in der Literatur? Der Auslöschung des Gedächtnisses etwas entgegensetzen? Der Genozid an den Armeniern 1915 ist ebenso wie die Vertreibung der türkischen Griechen ein wiederkehrendes Motiv des Romans. Der persische Dichter Rumi schrieb: „Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort.“ Sevgi Özdamar kennt ihn, und so hat ihr Roman seinen eigentlichen Ort im farbenprächtigen Leben einer erfindungsreichen, klugen Frau.
(Lore Kleinert)
Emine Sevgi Özdamar, *1946, aufgewachsen in Istanbul, Schauspielerin und freie, mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnete Schriftstellerin, lebt in Berlin
Emine Sevgi Özdamar „Ein vom Schatten begrenzter Raum“
Roman, Suhrkamp Verlag, 764 Seiten, 28 Euro
eBook 23,99 Euro