Sasha Marianna Salzmann
Im Menschen muss alles herrlich sein
Die Sommer in Sotschi am Schwarzen Meer sind für Lena immer das Schönste im Jahr – bei der Oma im Haus am Stadtrand, versteckt in den Haselnussbäumen, bis sie von ihr zusammen mit den Nüssen herausgeschüttelt wird - „einen ganzen Sommer lang weg von Mama”.
Unbeschwerter Sommer
Aber das ist auch so ziemlich die einzige schöne Erinnerung an eine Kindheit, die Lena im ukrainischen Teil der Sowjetunion verbringt. Ihr Mutter ist streng und herrisch, der Vater schwach und unterwürfig. Eines Tages darf sie nicht mehr zur Großmutter, sondern die kommt widerwillig nach Gorlowka, die unbeschwerten Zeiten sind vorbei. Lena kommt in die Schule, braucht Betreuung, denn die Mutter arbeitet. Streit ist vorprogrammiert. Und in den Ferien geht's missmutig ins Pionierlager - das sei eine große Ehre, schimpft die Mutter. Lena hat sich dem gnadenlosen Drill kollektivistischer Erziehung zu beugen, nicht nur zu den Mahlzeiten: „WENNICHESSEBINICHTAUBUNDSTUMM”. Würde sie nicht Freundschaft schließen mit einem ungewöhnlichen und unangepassten Mädchen, es wäre kaum erträglich.
Korruption und Unterdrückung
Es sind die 1970er Jahre in der Sowjetunion, die Sasha Maria Salzmann mit großer Genauigkeit und Einfühlsamkeit für die Menschen beschreibt, die sich in einer Zeit der Korruption und Unterdrückung behaupten, in viel zu kleinen Wohnungen hausen und sich den verlogenen Regeln eines kranken Systems beugen müssen, wenn sie überleben wollen. Als die Mutter schwer krank wird, trägt Lena voller Scham und Angst einen dicken Umschlag mit Geld zur Ärztin, damit sie die notwendige Medizin bekommt.
„Als sie vor Osana Tadejewnas Adresse stand, verrenkte sie sich den Hals und spürte, wie ihre Kiefermuskeln verkrampften. Sie hatte solche Häuser immer nur aus der Ferne gesehen, und nie war ihr in den Sinn gekommen, dass tatsächlich Menschen in diesen Schlössern aus Beton leben würden, dass es dort überhaupt Leben gab, es spannten sich keine Wäscheleinen vor dem Fenstern und die Etagen schienen so hoch zu sein, dass Lena kaum das Dach sehen konnte.”
Fleischwolf-Zeiten
Aber die Mutter wird nicht gesund. Und Lena schwört sich, Medizin zu studieren. Mit der Perestroika in den 80er Jahren beginnt das Sowjetreich zu zerfallen, doch Erleichterungen bleiben aus. Da ist Lena nach Umwegen, trotz Schulabschluss mit Auszeichnung, längst Ärztin - leider nicht für Neurologie, das wurde ihr auch nach "diskreten Gesprächen" verwehrt, sondern für Dermatologie. Der Chef befiehlt frei nach Tschechows 'Onkel Wanja' „Im Menschen muss alles herrlich sein – das Gesicht, die Kleidung, die Seele und das, was er denkt." Lena wird auf die Privatstation versetzt und lernt nun selbst die Patienten kennen, die in Pelzen kommen und mit Geschenken. Sie verdient gut daran.
„Seit ihrer Studienzeit kursierte das Wort Sowok für das, worin sie alle lebten. Kehrblech ... der ganze Abfall der Welt schien sich hier zu sammeln, also ja, warum nicht das Ganze eine Kehrschaufel nennen, auf der der Dreck am Ende landet. Aber Lena fand beides nicht zutreffend. Sie schaute von der Brücke hinunter auf die dröhnende Baustelle und dachte, dass Fleischwolf das einzige Wort war, das beschrieb, was hier geschah.”
Alte Feindbilder tauchen wieder auf, Rassismus und Antisemitismus wachsen, Lena verliebt sich in einen Tschetschenen, wird schwanger, er läßt sie sitzen. Sie lernt Daniel kennen, einen jüdischen Ingenieur. Er ist Kontingentflüchtling, sie heiraten Hals über Kopf und wandern nach Ostdeutschland aus. Großmutter und Mutter sind längst gestorben, der Vater bleibt, aber sie will endlich raus aus diesem Land, von dem ihr Chef sagt:
„... der Staat bröckelt, und die Leute müssen sehen, wo sie bleiben. Das ist verständlich. Unser Land liegt vom Bauchnabel bis zur Gurgel aufgeschnitten auf dem Operationstisch. Diese ... Umwälzungen, die Veränderungen ... werden immer mehr Menschen produzieren, die zu allem bereit sind.”
Streit und Verletzung
Mit dieser Auswanderung verbunden ist inhaltlich ein Perspektivwechsel hin zur Gegenwart, aber erzählerisch verliert der Roman Dichte und Spannung, konzentriert sich mehr auf die psychologisch-analytische Ebene und beleuchtet schmerzhaft intensiv die Sprachlosigkeit zwischen Müttern und Töchtern, ihre Suche nach Zugehörigkeit und Identität, nach Respekt und Anerkennung:
„Man kann den Menschen nicht vorwerfen, dass sie keine Helden sind, hatte sie zu mir in unserem letzten Streit gesagt, oder vielleicht war es nicht der letzte gewesen, unsere Streitereien hatten keinen Anfang und kein Ende, es war eine nicht abreißende Kette von Verletzungen.”
Lena und ihre Mutter haben nicht wirklich über Druck und Elend in der zerfallenden Sowjetunion geredet, auch Lenas Tochter Edita und sie selbst sprechen nicht über Motive ihrer Auswanderung, das Gefühl emotionaler Erpressung, den Verlust der Heimat oder gar über ihrem wirklichen Vater.
Traumata der Vergangenheit
Die Traumata totalitärer Strukturen bleiben unbenannt und unbewältigt, setzen sich fort in der nächsten Generation. Edi entzieht sich ihrer Mutter und wird Journalistin. Auch Lenas Freundin Tatjana und Nina, die im zweiten Teil des Romans hinzu kommen, sind Mutter und Tochter ohne wirkliches Verständnis füreinander. Fragen nach der Herkunft werden nicht gestellt. "Im Menschen muss alles herrlich sein" ist ein Roman voller sich ergänzender und miteinander verzahnter Geschichten, der einen präzisen Blick auf die alte Sowjetunion und die anschließende Zeitenwende wirft. Er ist zugleich eine Familiengeschichte mit ebenso starken wie verletzlichen Frauenfiguren, die von der Fremdheit zwischen Müttern und Töchtern erzählt und von den Zeiten des Umbruchs, innerlich und äußerlich - sprachgewaltig, in großartigen Bildern, atmosphärisch dicht und voller Empathie.
(Christiane Schwalbe)
Sasha Marianna Salzmann, *1985 in Wolgograd, Sowjetunion, 1995 emigriert nach Deutschland, deutsche Roman- und Theaterautorin, Essayistin und Dramaturgin, dieser Roman stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpareis 2021.
Sasha Marianna Salzmann „Im Menschen muss alles herrlich sein"
Roman, Suhrkamp 2021, 384 Seiten, 24 Euro