Hanns-Josef Ortheil
Ombra - Roman einer Wiedergeburt
„Der Stift und das Papier” - so lautet einer seiner Buchtitel: Hanns Josef Ortheil beschreibt darin, wie aus einem Jungen, der jahrelng nicht spricht, ein akribischer Beobachter seiner Umgebung wird, der minutiös aufschreibt, was er sieht und hört und sich dadurch langsam auch an Sprache und Sprechen herantastet.
Zurück in die Kindheit
Jahrzehnte später wird er sich erneut an Schreiben, Sprache und Erinnerung herantasten müssen. Er hat eine komplizierte Herzoperation hinter sich:
„Mein Hirn ist durcheinander, und ich weiß nicht, wie ich Ordnung hineinbringen könnte. Die Herzoperation liegt erst einen Monat zurück. Sie dauerte fünf Stunden, und danach lag ich im Koma, aus dem ich fast nicht mehr erwacht wäre.”
Er kann nicht mehr Klavier spielen, leidet unter innerer Unruhe, der Stift läßt sich nicht „wie sonst leicht und rasch bewegen”, er fühlt sich „hilflos und amputiert”, das Schreiben folgt seinen Gedanken nicht mehr:
„Am schlimmsten sind die Tagträume, die mich wieder in die Kindheit zurückschicken. Was habe ich in der Kindheit zu suchen?”
Sala Ortheil
Sehr viel, wie sich herausstellen wird. Er hat sich in die Einsamkeit seines Elternhauses im Westerwald zurückgezogen, fährt von dort aus täglich mit dem Zug zur Rehaklinik, in der er wieder aufgepäppelt werden soll – durch sportliche Trainings, Yoga, Gehmeditation, Entspannung, Psychotherapie. „Mindestens ein Jahr, wenn nicht mehr” soll es dauern, bis er wieder der Alte ist, sagt ihm der Herzspezialist. Aber, sagt Ortheil „es muss schneller gehen! Ich werde es ihnen beweisen.”
Statt Stift und Papier ist das Handy nun sein wichtigster Begleiter. Gewissenhaft und detailliert, wie es seine Art ist, diktiert er seine Beobachtungen und Gedanken, aber auch Zweifel, tiefe Verunsicherung und Verzweiflung ins Smartphone, wird seine Erfahrungen in der Klinik immer wieder neu hinterfragen, überprüfen, sortieren, den Ursachen seiner sich „heimlich und hinterrücks anschleichenden Erkrankung“ nachspüren. Ununterbrochen und nahezu manisch leistet er Kopfarbeit, führt nach seinen Therapiesitzungen analytische Gespräche mit Dr. Freud, der ihm rät, auf sich selbst zu hören und allzu intensive Kontakte mit seinen Eltern zu vermeiden. Er hört nicht auf Dr. Freud, richtet im nächstgelegenen Dorf schließlich eine „Sala Ortheil” ein, um dort Teile des umfangreichen Familienarchivs auszustellen. Ein Rückzugs- und Erinnerungsort. Aber auch ein Ort neuer Lebendigkeit, für Freunde und Gäste.
Das zweite Leben
So arbeitet Ortheil gedanklich und ganz real seine Familiengeschichte auf, das Trauma der Eltern, vier Söhne an den Krieg verloren zu haben, ihre tiefe, lebenslange Trauer, die Wortlosigkeit der Mutter und die Sammelleidenschaft des Vaters.
„Denke ich heute daran zurück, verstehe ich, woher mein jahrzehntelanges Schreiben kommt. Schon als Kind spürte ich instinktiv, dass mein Dasein erst durch die Schrift vollständig wurde. Zu einem zweiten Leben erweckt, das niemand auslöschen konnte. Das war eine starke Empfindung, im Schreiben und in der Schrift gerettet zu sein!”
Sich auf den Körper zu konzentrieren, den er jahrelang sträflich vernachlässigt hat, fällt ihm schwer. „Wenn der Kopf und das Gehirn nicht beteiligt sind, langweile ich mich sehr schnell.” Und er muss schreiben, immerzu schreiben, „Notate-Syndrom” nennt er es selbst. Als seine Psychologin ihn fragt, wieviele Bücher er insgesamt veröffentlicht hat, weiß er es nicht. Diesmal ist es keine krankheitsbedingte Erinnerungslücke, sondern er kennt die Zahl einfach nicht: „Ach, ich habe sie nie gezählt ... das hat mich nie interessiert ... ich habe keine Ahnung.” Aber die Psychologin zählt: Es sind 70 Bücher, nicht mitgerechnet die vielen Zeitungsartikel, Essays, Reisenotizen, Vorträge - das alles neben einer intensiven Tätigkeit als Professor für kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Ein Workoholic – gewiß. Aber seit seiner Kindheit sind Schreiben und Klavierspielen seine Passion. Und sein Lebensinhalt, sein Selbstverständnis, seine Existenzberechtigung.
Gegen den Schatten
„Ombra”, der Titel des Buches läßt viele Assoziationen zu: Schatten seiner selbst nach der schweren Krankheit, Schatten der Kindheit, Schatten der Erinnerung, Schatten als Verdüsterung ebenso wie als Schutz. Diktierend und suchend tastet sich Ortheil zurück ins Leben, sucht die Orte seiner Kindheit auf, trifft sich mit einem alten Freund, beginnt Fahrrad zu fahren, trinkt auch wieder das eine oder andere Kölsch. Er findet schließlich eine kleine Wohnung in Köln an dem Platz, an dem er einst mit seinen Eltern wohnte, und wagt sich in einer Lesung mit großem Publikum – zum erfolgreichen Schreiben gehören auch Eitelkeit, Beifall, Bewunderung, öffentliches Interesse.
Das alles ist nicht ohne Längen, insgesamt aber spannend zu lesen, die Erfahrung vom „Todestunnel” schwebt über allem, aber auch die beginnende Energie, die aus der Verarbeitung familiärer Traumata erwächst. Ein offener Blick ins Innenleben des Autors und berührendes, sehr persönliches Buch.
Ergänzend zu „Ombra” ist „Ein Kosmos der Schrift” erschienen, darin intensive Gespräche mit seinem langjährigen Lektor, die autobiografisch ergänzen, wie Hanns-Josef Ortheil zu dem geworden ist, der er ist. Eine vertiefende Ergänzung zum „Roman einer Wiedergeburt.”
(Christiane Schwalbe)
Hanns-Josef Ortheil *1951 in Köln, deutscher Schriftsteller, Drehbuchautor und Professor für Literatur
Hanns-Josef Ortheil „Ombra”
Roman einer Wiedergeburt Luchterhand Literaturverlag 2021, 304 Seiten, 24 Euro
„Ein Kosmos der Schrift”
Hanns Josef Ortheil zum 70. Geburtstag
btb-Taschenbuch 2021, 368 Seiten, 12 Euro