Monika Helfer
Löwenherz
Richard ist ein ungewöhnlicher Mensch: Einen „Schmähtandler" nennt ihn seine Schwester Monika, der immer neue Geschichten erzählt, die selten wahr sind, aber immer verzaubern.
Lange Leitung
Er ist ein Eigenbrötler und ein versponnener Träumer, der ohne Plan durchs Leben geht, etwas langsamer als andere.
„Richard sagte gern über sich, er habe eine lange Leitung. Und meinte, was man damit eben meint, nämlich, dass er länger braucht als andere, um etwas Neues zu begreifen".
Als Kind war er an Rachitis erkrankt, seitdem schlendert er „mit verqueren Beinen", den Kopf immer vorneweg. Immerhin hat er eine Ausbildung gemacht, ist Schriftsetzer, „die Avantgarde der Arbeiterklasse". Und er malt,
„sehr bunte Bilder ...von morgens bis in die Nacht hinein. Mit dünnen Pinseln malte er Landschaften, in denen Menschen stehen. Zimmer, in denen Menschen stehen. Straßen, auf denen Menschen stehen. ... Keine Bewegung. ... Alle Menschen schauen dem Betrachter direkt und starr in die Augen."
Verkäuflich sind seine Bilder allerdings nicht, nur „verschenklich".
Zwei Käuze
Richard ist aber auch leichtsinnig, weggelaufen schon als Kind, als er nach dem frühen Tod der Mutter bei seiner Tante als Pflegekind einquartiert wurde. Der Vater, ohnehin ein Mann, der mit Büchern vertrauter war als mit seinen Kindern, zog sich ins Kloster zurück, untröstlich und depressiv. Weder interessierten ihn seine Töchter, noch sein Sohn, den er früher „Löwenherz" nannte – aber nur selten,
...weil er fürchtete, der erwachsene Richard könnte sagen: Lass das! Gefühle waren für unseren Vater ein unauflösliches Knäuel und für Richard nicht besonders interessant."
Auch Frauen gegenüber nicht, obwohl er – nicht ganz überzeugt - eine Anwältin heiratet, die sich in den komischen Kauz vernarrt hat. Wirkliche Liebe empfindet Löwenherz nur für seinen struppigen Hund, der ihm zugelaufen ist. Schamasch nennt er ihn, seinen „Sonnengott".
„Mein Bruder und Schamasch gehören inzwischen zum Stadtbild. Zwei Käuze. Der Mann mit dem Hund. Dabei war er erst Mitte zwanzig. Ich fand, die beiden sähen sich bereits ein wenig ähnlich."
Fast ertrunken
Als er eines Tages bei schönstem Wetter am Bodensee, „da wo die Baggerlöcher sind" eine ausrangierte Badewanne entdeckt, beschließt er (als Nichtschwimmer!) darin über den See zu fahren, bis zum Rheinfall in Schaffhausen:
„Dort würde er in der eisernen Wanne über den brüllenden Wasserfall hinunterpoltern und vielleicht sogar überleben."
Er kentert, strampelt um sein Leben und wird von der schwangeren Kitti gerettet. Buchstäblich ein guter Fang, denn sie nimmt es mit den Männern nicht so genau und sucht zufällig gerade einen Ersatzvater für ihre kleine Tochter Putzi - und für das neue Baby. Putzi ist drei Jahre alt, und Richard liebt sie abgöttisch. Die beiden verbringen mit Unterbrechungen eine lange, glückliche Zeit miteinander, die jäh endet.
„Leere ist, wo nichts ist. Leere ist, wo einmal etwas war. Wie könnte man sonst von Leere sprechen? ... Richard war fünfundzwanzig, als ihm Putzi weggenommen wurde. Fünf Jahre hat er noch gelebt ... ."
Schock und Schuldgefühle
„Lange Leere” überschreibt Monika Helfer ihr letztes Kapitel über Löwenherz, der - das erfährt man gleich zu Beginn des Romans - mit dreißig Jahren Selbstmord beging. Ein Schock. Und ein Grund für Schuldgefühle. Hat sie sich nicht genug gekümmert? Sie ließ sich scheiden, hat erneut geheiratet, den Schriftsteller Michael Köhlmeier, und ist mit ihm und vier Kindern in sein Elternhaus gezogen. Richard hat sie dabei „ein bisschen vergessen", wie sie zugibt, auch ihr Mann, der eine eigene, freundschaftliche Beziehung zu ihm entwickelte und über ihn sagte: „Er hat nicht besonders gern gelebt”. Manchmal fragt die Autorin ihren Mann, bittet um Rat oder Bestätigung - als müsse sie ein wenig Distanz zwischen sich und dem Bruder schaffen und brauche einen zusätzlichen Blickwinkel.
Zärtlicher Vater
Berührend und liebevoll nähert sich Monika Helfer ihrem Bruder, als würde sie ihn neu entdecken. Sie erzählt ebenso lakonisch wie warmherzig von ihm: als einem überaus zugewandten und zärtlichen Vater, der eine tiefe Beziehung zu dem kleinen Mädchen Putzi entwickelt, das ihn von Anfang an 'Papa' nennt – intensiver und liebevoller, als er es selbst in der Kindheit mit dem eigenen Vater erlebte. Helfers Sprache ist, wie schon in „Die Bagage” und „Vati”, beeindruckend klar und einfühlsam. Sie braucht nur wenig Worte, um Bilder zu schaffen, Atmosphären, Stimmungen – ein unnachahmlicher, eindringlicher Ton.
(Christiane Schwalbe)
Monika Helfer, *1947 in Au/Bregenzerwald, österreichische Autorin von Romanen, Erzählungen und Kinderbüchern, lebt in Vorarlberg
Monika Helfer „Löwenherz"
Roman, Hanser Literaturverlage 2022, 192 Seiten, 20 Euro
eBook 15,99 Euro, AudioCD 18,45 Euro
Weitere Buchtipps zu Monika Helfer
"Die Jungfrau"
"Vati"
"Die Bagage"